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Es geht um den Hörraum

Es war die erste Fachtagung über Eurythmie, Sprachgestaltung und Heileurythmie, die Stefan Hasler vollständig verantwortete, und es war die erste Sektionsfachtagung, an der von den 750 Teilnehmenden aus 40 Ländern mehr als 400 in Workshops, Aufführungen und Seminaren aktiv etwas beitrugen. Es war die erste Fachkonferenz, die sich ausschließlich der Sprache widmete. Aus dem Beginn der Tagung.


Was nur andere Sprachen sagen können

Stefan Hasler umriss am Anfang die vier Arbeitsgebiete der Tagung und berichtete zuerst über ihre globale Ausbreitung. Dank der Waldorfpädagogik werde heute über die ganze Erde Eurythmie gemacht, 24 Stunden pro Tag. Es höre nie auf, dass sich irgendwo ein Kind, ein Jugendlicher in diesem Sinne bewege, und es höre nie auf, dass sich dabei das Wesen der Eurythmie in eine andere Sprachkonstitution transformiere. Und wenn man an einem neuen Tag wieder in sein Eurythmiekleid schlüpfe, dann sei in der Zwischenzeit das Wesen der Eurythmie über alle Kontinente gewandert und habe sich in all den Sprachen geäußert. Nach hundert Jahren sei das Wesen der Eurythmie deshalb in eine gewaltige sprachliche Vielfalt gewachsen, die an dieser Tagung, so Haslers Versprechen, zum Bewusstsein kommen könne. In dieser sprachlichen Vielfalt sei man selbst eine besondere Stimme. Jeder Mensch werde durch seine Geburt und Erziehung in eine Sprache hineingeboren und konstituiert. Der Sprachleib der Kultur werde zum eigenen Sprachleib. Damit sei eine der Grundkräfte, die Leben und Charakter prägen, bestimmt, ob man es wolle oder nicht. Die Dimension dieser Tatsache erfahre man kaum, solange man sich in einem Umfeld bewege, das die eigene Sprache versteht und spricht. Dann komme irgendwann der Moment, wo man anderen Sprachen begegne, andere Sprachen nicht verstehe und auf diesem Weg erstmals der eigenen Sprachlichkeit begegne.

Gegenwärtig gibt es 870 Studierende der Eurythmie in 42 Einrichtungen und 120 Studierende der Sprachgestaltung in 11 Ausbildungen, wobei jede Institution aus der jeweiligen Sprachkonstitution einen Lehrplan entwickelt. Als Beispiel der kulturellen Verschiedenheit und der unterschiedlichen Zugänge nannte Stefan Hasler die vier Elemente Europas aus der griechischen Tradition im Unterschied zu der Fünf-Elemente-Lehre Chinas aus dem Daoismus. Wieder sei es so, dass man den Charakter des eigenen Zugangs erst bemerke, wenn man mit jemandem zu tun habe, der in der Welt nicht vier, sondern fünf Grundkräfte finde.

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Was in der menschlichen Seele lebt, wie es sonst ausgedrückt ist durch das Organ des menschlichen Sprechens, durch den Kehlkopf, soll ausgedrückt werden durch den ganzen Menschen, durch seine Bewegungen, durch seine Stellungen. Der ganze Mensch soll gewissermaßen als Kehlkopf sich vor dem Zuschauer entwickeln.
— Rudolf Steiner, GA 277, Dornach, 13. März 1919

Was kann ich, so fragte Hasler, durch meine Sprachkonstitution zum Wesen der Eurythmie und Sprachgestaltung Besonderes beitragen? Wie kann ich dieser großen Buntheit meine Farbe hinzufügen, wohl wissend, dass es viele andere gibt? Es gehe weniger darum, zu staunen, was es alles gibt, sondern vielmehr darum, am anderen zur Selbsterkenntnis aufzuwachen und das Besondere des eigenen Beitrags, der eigenen Farbe zu verstehen.

Hasler schilderte, dass Rudolf Steiner schon zu Beginn der Eurythmie 1912 Lori Smits gebeten habe, ein Gedicht auch auf Französisch zu gestalten, und Tatjana Kisseliowa hätte Rudolf Steiner selbst nach der russischen Sprache gefragt. Die Internationalität sei der Eurythmie in die Wiege gelegt, denn schon in den Pionierjahren waren Menschen aus neun Sprachen mit Rudolf Steiner eurythmisch unterwegs. Hasler erinnerte daran, dass mit der Publikation ‹Rudolf Steiners Angaben zur Eurythmie in verschiedenen Sprachen› nun alle Angaben von Rudolf Steiner in diesen Sprachen, von Dänisch bis Tschechisch, zusammengetragen worden sind.

Die Symphonie von Sprachgestaltung und Eurythmie


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Der zweite Schwerpunkt der Tagung sei die Beziehung von Eurythmie und Sprachgestaltung. Hasler betonte, dass es immer eine bewusste Entscheidung sei, wenn Eurythmie und Sprachgestaltung zusammenarbeiteten. Nichts sei vorgegeben. Als Schwesternkünste seien sie entstanden und nur als Schwestern- oder Brüderkünste könne man damit weiterkommen. «Wir kennen alle die Erfahrung, was alles dazu notwendig ist, um sich so loslassen zu können, dass man sich auf den anderen einlassen kann», appellierte er an die Tagungsgemeinschaft und erinnerte an folgenden Gegensatz: Da stehe im Zentrum die Sprecherin oder der Sprecher und die Eurythmisten tanzten umkreisorientiert darum herum. Dabei sei nicht nur die Qualität polar, sondern auch die Art des Zugangs, betonte Hasler. «Wir funktionieren verschieden!», rief er der Versammlung zu und nannte das Ziel in Erinnerung an Rudolf Steiner eine «symphonische Ergänzung». Wenn dann der Sprachgestaltung etwas durch die Eurythmie und der Eurythmie etwas durch die Sprachgestaltung aufgehe, dann sei das keine Addition, sondern eine Explosion, eine Eröffnung, eine Ermöglichung, den Zwischenraum zu entdecken.

Die Laute zeigen sich nur dem Individuellen

Dann schilderte Hasler eine andere ‹Explosion›: Zwölf bemalte geschnittene Eurythmiefiguren waren bis vor zwei Jahren aus der Hand von Edith Maryon und drei von Rudolf Steiner bekannt. Dank der Aufrufe für das Publikationsprojekt mit Martina Maria Sam kam nun eine unglaubliche Fülle von insgesamt 130 originalen Eurythmiefiguren von Edith Maryon ans Licht – viele aus dem Besitz von Menschen, die überhaupt nicht wussten, welchen Schatz sie in ihrer Schublade hüteten. Jede von diesen Figuren, auch wenn sie den gleichen Laut darstellten, seien doch farblich immer neu gegriffen worden, seien ein unverwechselbares Unikat. Natürlich wiederhole sich der Umriss, denn den habe Kočorova ausgesägt, aber die anhand von Steiners Grundskizzen ausgeführte Bemalung sei hochindividuell. Auch wenn Edith Maryon die größte Achtung vor Rudolf Steiner gehabt habe, so habe sie doch nicht dessen Figur kopiert, sondern versucht, bei jeder Figur einen eigenen Zugang zum Laut zu finden. Und Rudolf Steiner habe diese ‹Abweichungen› gesehen und geschätzt. Von zehn Figuren wisse man heute, dass Rudolf Steiner die Werke von Edith Maryon noch mit dem einen oder anderen Pinselstrich ‹ergänzt› habe. Das zeige ihm, so Stefan Hasler, dass man die Eurythmiefiguren nicht als Schema nehmen dürfe, sondern sich das Wesen des Lautes nur durch den individuellen, künstlerischen, authentischen Zugang zeigen könne. Nicht anders sei es bei der eigentlichen Eurythmie: Auch hier könne sich der Laut dann zeigen, wenn der Zugang zu ihm eigenständig und neu ergriffen werde. Die Figuren als das Urbild der lauteurythmischen Gebärde zeigten sich, so die Erkenntnis aus den letzten Jahren, vielfältig, unterschiedlich und individuell.

Was heute kostbar ist


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Am Schluss der Einleitung ging es um das eurythmische Arbeitsleben. Die Arbeit und auch der Stress nehmen laut Hasler zu, der Aufwand für Organisation wächst. In vielen Arbeitsfeldern nimmt die Dokumentation von Therapiestunden die Hälfte der eigentlichen Arbeitszeit ein. Berge von Papieren treten an die Stelle der Begegnungen. Es sind, so Hasler, nur 350 Worte, mit denen wir uns heute in der Kommunikation über SMS bewegen, und an die Stelle des Wortes ist das Bild getreten – Bilder, den ganzen Tag lang. So skizzierte Stefan Hasler mit breiten Pinselstrichen, dass der Hörraum heute immer mehr abhanden komme. Deshalb sei die eurythmische Arbeit, die mit Bewegung, Sprache, Stille und Pause umgehe, heute so kostbar. Er schloss mit der Vermutung, dass gerade der Entzug des Hörraums, das fortwährende Visualisieren, die Attacken auf alle Stillen erst ermöglichten, die Kostbarkeit des Innenraums empfinden zu können. Eurythmie heiße ‹sichtbare Sprache›, ‹sichtbarer Gesang›. Sichtbar würden sie durch den Hörraum. Um ihn zu gewinnen, brauche es gegenseitige Unterstützung und Hilfe, denn heute entstehe der Hörraum im Miteinander.


Fotos: Xue Li, Ausstellung von neu gefundenen Eurythmiefiguren und Workshops der Tagung ‹Sprache und Bewegung›

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