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Doppelsehnsucht: Landwirtschaft und Pädagogik

Gespräch zur Menschenbildung von Clara Steinkellner mit Peter Guttenhöfer, Mitbegründer der Initiative ‹Handlungspädagogik›, die eine Symbiose von (Waldorf-) Schule und (Demeter-) Landwirtschaft anstrebt.


Lieber Peter, wir sitzen hier im schönen Görlitz auf einer Bank neben Jakob Böhmes Grab, um über deine pädagogischen Impulse zu sprechen. Der Tag war lang, der Abend dämmert langsam herein. Gerade hattest du erwähnt, dass dir die Stelle, an der Jakob Böhme im pädagogischen Werk Steiners auftaucht, wesentlich ist …

Ja! Was ich meine, ist, dass die pädagogischen Empfehlungen Rudolf Steiners die Biografie Jakob Böhmes an der Stelle berühren, wo er sagt, dass man mit der Hand tätig sein müsse in der Welt, um wahrheitsgemäß denken zu können, und als Beispiel auf Jakob Böhme verweist, der ja einer der großen Denker und Philosophen war und der hier in Görlitz ein Schuhmachermeister gewesen ist!

Und genau das wird ja heute im Bildungswesen auseinandergerissen – das Intellektuelle und das Handwerkliche. Man meint ja sogar, es gäbe eben Menschen, die seien eher theoretisch oder eben eher praktisch veranlagt, und die solle man trennen, am besten ab dem 10. Lebensjahr. Aber – wie ist das gemeint, dass die Ausbildung der Hand den Kopf aufwecken soll?

Man kann es ein bisschen modifizieren, weil Steiner es so ausdrückt: Der Gliedmaßengeist weckt den Kopfgeist auf. Wenn wir mit unseren Sinnen die Welt berühren und mit unseren Gliedmaßen tätig werden, dann strömt in diesem Begegnungsvorgang das Geistige der Welt in uns ein. «Wenn du deine Hand ausstreckst zu sinnvollem Tun, verbindest du dich mit dem Geiste», sagt Steiner und stellt selbst die Frage: Was ist sinnvolles Tun? «Die Tätigkeit des Menschen ist dann sinnvoll, wenn sie so getan wird, wie die Umgebung es erfordert.»

Und wie verstehst du den Begriff ‹Umgebung›?

Ja, unsere Umgebung, die können wir in unserem heutigen holistisch-ökologischen Bewusstsein nur noch so verstehen, dass das eigentlich zumindest der ganze Planet ist. Zumindest die Naturreiche der Erde sind heute von allem betroffen, was wir tun.

Der Klimawandel zeigt uns das auch!

Ja, das wird uns alles ganz deutlich gespiegelt, was ja zu Steiners Zeit so fast niemandem sichtbar war. Was fordert die Umgebung von mir? Da muss ich jetzt wieder bescheidener sein, weil das mein Denkvermögen weit übersteigt. Wenn ich das jetzt aber herunterbreche auf meine Verantwortung gegenüber den Kindern, die ich erziehen will, dann brauche ich eine Umgebung, in der alle Naturreiche anwesend sind, nämlich Tiere, Pflanzen, Boden und tätige Menschen.

Und das heißt, dann könnten die Kinder auch sinnvolles Tun erleben, dass eben die Kühe gemolken, die Ernte eingefahren wird, die Schafe geschoren werden …

Ja, und das hängt zusammen mit dem Begriff ‹Ver-Antwortung›, denn was die Umgebung von mir erfordert, das ruft sie mir zu …

… wie in dem Märchen von Frau Holle.

Ja, genau, so wie der Apfelbaum der Goldmarie!

… und so wird ja, u. a. mit eurer Initiative der ‹Handlungspädagogi› (1), das Potenzial des Bauernhofes, im Idealfall des Demeterhofes, der eine Hof-Individualität ausbilden durfte, als Umgebung für das zu erziehende Kind neu erschlossen. Heute Nachmittag waren wir mit dem Kollegium der Görlitzer Waldorfschule auf dem nahe gelegenen Lindenhof, der als Demeterhof eigentlich sogar Keimzelle für die Entwicklung der Waldorfpädagogik in Görlitz war, um über zukünftige Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu sprechen. Wir hatten das Glück, eine junge Frau zu treffen, die erst Sozialpädagogik studiert hat, um dann die Freie Ausbildung in Demeter-Landwirtschaft anzuschließen, und die vor einem Jahr auf den Lindenhof zog, mit dem Impuls, Pädagogik und Landwirtschaft zu verbinden.

Mir sind in letzter Zeit viele junge Menschen begegnet, die diese bemerkenswerte ‹Doppelsehnsucht› in sich tragen: die sich mit einem heilenden Impuls zur Landwirtschaft und zum Pädagogisch-Sozialen hinwenden. Es liegt viel Zukunft in erweiterten Hofgemeinschaften: Vielleicht schließt sich manchmal sogar ein Arzt an mit seiner Praxis. Und der Imker, der Bauer, der Arzt, alle erziehen durch das, was sie gemeinsam gestalten, die Kinder. Die Kinder sind zunächst nachahmend. Steiner sagte: Wenn wir den Übergang vom Spielen ins Arbeiten richtig gestalten können, dann haben wir das Wesentliche für die Elementarschule schon getan. Und genau dieser Übergang kann am Hof stattfinden, weil es da unendlich viel zu Spielen gibt und weil die sich bewegenden Erwachsenen unendlich am Arbeiten sind …

Vor allem gibt es dort Arbeit, die mit der Willenssphäre, an die das kindliche Spiel anschließt, noch in Kontakt steht, was die viele ‹Schreibtischarbeit› ja kaum mehr hergibt.

Ja, und das gibt dem Kind Heimat auf der Erde: Es besteht Sinn zwischen den Handlungen, und es besteht Sinn zwischen dem Ablauf, ohne dass das vom Kind reflektiert werden kann, werden soll. Das kommt erst später, der Kopf soll ja nicht zu früh aufgeweckt werden. Und genauso wie die Landwirtschaft ist das Handwerk, das ja auch weltweit auszusterben droht, von immenser pädagogischer Bedeutung: Wenn man als Kind die Werkzeug gewordene Weisheit von Jahrtausenden sozusagen anfassen kann, an jedem Hammer, jeder Säge, jeder Sense, ohne dass das in kognitive Begriffe gebracht werden muss, dann sind das sozusagen echte Begriffe durch die Hände … Denn der Stiel eines guten alten Hammers, der ist eben nach unten ausgeschweift, damit er beim Arbeiten nicht aus der Hand fliegt! Und da kann man sich eine Ahnung davon verschaffen, dass wirklich das Geistige durch die Hände in den Menschen hineinfließt – davon spricht Steiner in diesen letzten Menschenkunde-Vorträgen.

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Denn der Stiel eines guten alten Hammers, der ist eben nach unten ausgeschweift, damit er beim Arbeiten nicht aus der Hand fliegt!

Bei all der lebendigen Umgebung: Was bleibt in eurem Ansatz übrig von der Beziehung eines Lehrers zu einer Kindergruppe, was bleibt übrig von einem guten Unterrichtsgespräch?

Das brauchen wir dringend! Das Kind, ich sag mal das ungefähr neunjährige Kind, das kann schon viel machen im Heu und im Stall. Aber es kann sich nicht den ganzen Tag den Einwirkungen dieser großen Naturwesen aussetzen, da wird es nämlich sich selbst gar nicht richtig entfalten können, weil diese Wesen so stark sind. Es muss sich auch zurückziehen dürfen, ins Haus, ins Zimmer. Das, was der Klassenlehrer in den ersten 100 Jahren Waldorfpädagogik geübt hat, das ist das Allerheiligste, und das können wir auch nicht jetzt mal eben um eines Aktivismus willen aufs Spiel setzen! Diesen Menschen muss es geben, und das kann auch nicht jeden Tag ein anderer sein, der eben mit den Kindern altersgemäß Tag für Tag etwas entwickelt. Meiner Meinung nach gehört das, was der Hauptunterricht ist, wie immer wir das dann auch nennen, das gehört in jeden Tageslauf! Sonst verwildern die Kinder.

Und in der Oberstufenzeit?

Da werden Gedankenzusammenhänge immer wichtiger! Da kann ich dann die reichen Erlebnisse aufgreifen und auf Begriffe bringen, aber lebendige Begriffe! Zum Beispiel in den großartigen Überblicksepochen der Biologie, der Überblick über das Tierreich und die Beziehung zum Menschen: Was ist an mir das Kuhartige, was das Katzenartige? Dann weiß ich, dass die Tiere alle im Menschen sind und dass das Tierreich ein ausgebreiteter Mensch ist, und dann bin ich bei Karl Königs ‹Bruder Tier› angekommen. Und dann kann ich auch nicht mehr das Schlachtvieh so vergegenständlichen, wie wir es heute tun … Wir sehen: Man könnte in der Oberstufenzeit so vieles zur Entfaltung bringen, die großen Themen bewegen, Geburt und Tod, die meiner Erfahrung nach jeden Zehntklässler sehr interessieren, wenn das Abitur nicht so bestimmend wäre. Ich ärgere mich heute, dass wir in den 1970er-Jahren dachten, wir würden die Waldorfbewegung voranbringen, indem wir selbst das Abitur anbieten. Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass die Universitäten unsere Schüler heute mit dem Waldorfportfolio aufnehmen würden, wenn wir drangeblieben wären und das eigene Profil gestärkt hätten! Nun, das ist eine eigene Baustelle.

Aber ein wichtiges Thema! Abschließend können wir festhalten: Es geht bei der Menschenbildung auch um ein Sich-in-Beziehung-Setzen zur Erde. Und die Erde umfasst das Mineralische, die Pflanzen, die Tiere und den Menschen …

Und Tod und Geburt. Ja, du hast eben Raum und Zeit, das ist das, was die Erde schenkt. Hier darfst du – wenn’s gut geht – 80 Jahre sein. Und in dem Moment, wo du die ersten Schritte machst, fängst du schon an, mitverantwortlich zu sein für das weitere Werden all der anderen. Du kannst es nicht mehr nur einfach für dich verbrauchen, damit zerstörst du es. Deswegen: Die Pädagogik muss sich mit diesem Gebiet verbinden, mit der Landwirtschaft, mit dem Gartenbau … Und von der landwirtschaftlichen Seite her gesehen: Wenn sich kein neues Bauerntum entwickeln kann, weil es niemand tut, dann werden Bayer und Monsanto großen Schaden anrichten …

In diesem Sinne: Den vielen Brückenbauern zwischen Landwirtschaft und Pädagogik alles Gute!


(1) https://handlungspaedagogik.org

Peter Guttenhöfer ist langjähriger Waldorflehrer für Deutsch und Geschichte bzw. Dozent am Lehrerseminar in Kassel und Mitbegründer der Initiative ‹Handlungspädagogik›, die eine Symbiose von (Waldorf-)Schule und (Demeter-)Landwirtschaft anstrebt.

Zeichnung: Teo Vadersen

Mit diesem 9. Gespräch ist die im September 2017 begonnene Reihe ‹Fantasie & Charakter – Gespräche zur Menschenbildung› nunmehr abgeschlossen.

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