Der unsichtbare Mensch

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Viele Menschen wünschen sich, Rudolf Steiner zu Lebzeiten begegnet zu sein. Was ist das Motiv zu dieser Sehnsucht?


Ein anderes, heimliches Gefühl könnte es auch geben: das unwillkürliche Gefühl, man wüsste dann besser, wie er ‹wirklich› gewesen ist. Also alles, was wir nur aus Überlieferung und Erzählung kennen, stattdessen aus erster Hand, unmittelbar zu erfahren. Wie er ging, wie er sprach, wie es sich anfühlte, ihm körperlich, leibhaftig zu begegnen. Wir können nicht anders, als diese Unterscheidung zu treffen: eine Person, von der wir nur hören, oder eine Person, die wir sehen, in sinnlicher Form vor uns erscheinend. Eigentlich ist es das Gefühl, als wäre die nicht sinnlich wahrnehmbare Person kein direktes Gegenüber, kein ‹Du›, sondern ein ‹Er›.

Man kann diese heimliche Sehnsucht in der eigenen Seele anerkennen und muss sich doch sagen: Schau, wie verrückt das ist, gerade aus anthroposophischer Perspektive. Als ob die sinnlich-materielle Erscheinung einen Menschen wirklicher machen würde, als die eigene Imagination es tut. Da kann man sich sagen: Mein lieber Apostel Thomas, da hältst du dich für ichhaft und dann das – dann willst du doch ‹sehen› … physisch, körperlich wahrnehmen.

Von Rudolf Steiner selbst gibt es die köstlich formulierte Anmerkung, wie froh er im Grunde gewesen ist, Goethe nicht leibhaftig begegnet, sondern 29 Jahre nach dessen Tod geboren zu sein. Mir geht es ähnlich, ich bin 34 Jahre nach Rudolf Steiners Tod geboren und ich bin froh darüber. Wer weiß, wie schnell, wie leicht, wie unvermittelt irgendeine Seelenregung – und sei es eine positive wie Ehrfurcht oder Ähnliches – den Anblick des anderen verstellt. Für uns Nachgeborene spielt so die Frage, wie er wirklich war, dieser Mensch, die Person Rudolf Steiner, einzig und allein in der geistigen Welt, im Übersinnlichen, wo sie ja nun tatsächlich hingehört. In jeder Begegnung! Denn das, was wir erscheinen sehen, auf zwei Beinen physisch vor uns herumhantierend, das ist bekanntlich nicht der Mensch, sondern lediglich der von diesem in Form arrangierte, materiell ausstaffierte Organismus. Der wirkliche Mensch ist unsichtbar.

Wer den wirklichen, unsichtbaren Rudolf Steiner persönlich wahrnehmen oder kennenlernen will, der befindet sich fraglos mitten in einer anthroposophischen imaginativen Übung und müsste daher der Anthroposophie und damit Rudolf Steiner bereits begegnet sein. Das führt zu der herausfordernden Frage: Kann ich Rudolf Steiner bereits kennen, ohne es zu wissen? Ist es möglich, dass dies zeitlich auseinanderklafft – unter Umständen über sehr lange Zeiträume?

Etwas, das vermutlich alle Menschen verbindet, die sich der Anthroposophie zugehörig fühlen, ist der Augenblick der Erinnerung, wann, wo und wie sie im eigenen Leben auftrat, oder besser: eintrat. Nennen wir es ruhig einen Geburtsaugenblick. Geistgeburt bei lebendigem Leib – und danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Auch für diejenigen, die aus einer anthroposophischen Familientradition stammen, wird es diesen Augenblick geben, wo sie erstmals und eigenständig davorstehen und entdecken: Das bin ich. Das gehört zu mir, das ist mit meinem Wesen so verbunden, dass ich ohne dies weder leben kann noch will. Dieser Augenblick der eigenen Geistgeburt lässt Rudolf Steiner als Hebamme erscheinen, im Sinne von Sokrates als einen Menschen, der mir hilft, zur Welt zu kommen als derjenige, der ich wirklich bin. Diese Erfahrung der eigenen Wirklichkeit ist kein intellektuelles Spiegelerlebnis, sondern tatsächlich ein Antreffen meiner selbst, das sich anfühlt wie ein Nach-Hause-Kommen. Wir sollten uns gegenseitig erzählen von diesem kostbaren biografischen Augenblick, denn er ist es, der uns verbindet im gemeinsamen Erinnern.

Ich saß in einer Bibliothek, wo die Aufnahmegespräche stattfanden, und sagte eben meine Teilnahme ab. Wie froh war ich über die Zusage des Theaters und dass ich nun doch nicht in dieses seltsame Institut mit den komischen Möbeln und noch merkwürdigeren Leuten gehen musste – bloß weil sie da Kunst hatten und theoretisch als einziger Ort in der Welt, den ich finden konnte, den Kunstbegriff pflegten, den ich liebte. Aber alles andere schien sonderbar sektiererisch … So sagte ich gut gelaunt und entspannt, dass ich nicht käme, und im selben Augenblick fuhr mir ein Schwert in die Brust. Es tat unendlich weh, ein furchtbar scharfer körperlicher Schmerz – ich dachte, so müsste sich ein Herzinfarkt anfühlen –, und ich wunderte mich. Was geht hier vor? Ich hörte deutlich eine Stimme in mir. Es war meine eigene und sie sagte: Du hast soeben das Kostbarste in deinem Leben verloren … Aber was sollte das? Es geschah doch mein Wille, den ich fröhlich verkündete …

Ein Mensch saß mir gegenüber, der mich ansah, als ob er alles sehen und auch verstehen könne, was sich unbegreiflich in mir zutrug. Dann lächelte sie und Karin Mittmann, die Leiterin des Freien Jugendseminars in Stuttgart, nahm mich mit ins Dachgeschoss. Dort redeten wir weiter, stundenlang, und wie die Sache ausging … dieser Artikel spricht hoffentlich für sich.

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