Der nathanische Jesus

Nach seiner umfangreichen Studie zur Auferstehung im Werk Rudolf Steiners (2015), dem Sammelband ‹Wer ist Christus?› (2020) sowie seiner Publikation zum ‹Engelwirken im Menschenleben› (2021) legt Frank Linde nun ein Buch zu Jesus von Nazareth und zur nathanischen Seele vor.


Auch dieses neue Buch zeugt von einer profunden Kenntnis und Durchdringung des Themas. Es handelt sich um eine erzählerische Wiedergabe der Forschungsergebnisse Rudolf Steiners, die sich gleichwohl, wie der Autor hervorhebt, «an das Verstehen» und nicht «an die Glaubenskräfte» wendet. In zehn Kapiteln behandelt Linde alle relevanten Darstellungen Rudolf Steiners, die seine Jesulogie betreffen, die an die Gestalt jenes Knaben anknüpft, der dazu bestimmt war, zum ‹Cristophorus›, zum Christusträger zu werden. Natürlich wird auch der salomonische Jesusknabe behandelt, ohne den Steiners Jesulogie unvollständig bliebe. Linde geht ausführlich auf die unterschiedlichen Geburtsgeschichten und Genealogien der beiden Knaben ein, deren Vorfahren sich von König David an verzweigten.

Laut Matthäus stammte der eine der beiden Knaben von Salomo ab, laut Lukas der andere von Nathan. Salomo und Nathan waren Söhne Davids. Nimmt man die beiden Evangelisten beim Wort, muss von der Existenz zweier Jesusknaben ausgegangen werden, deren widersprüchliche Stammbäume und unterschiedliche Geburtsgeschichten unter dieser Voraussetzung eine plausible Erklärung finden. Lukas führt die Herkunft Jesu bis zu Adam zurück, der von Gott stammte, Matthäus bis zu Abraham. Demnach war nicht nur ihre leibliche Abstammung verschieden, sondern auch ihre geistige. Wie schon der Evangelist andeutet, stand der nathanische Jesusknabe in einer tiefen spirituellen Beziehung zu Adam, verkörperte sich in ihm doch ein Teil des gemeinsamen Ursprungs aller Menschen, der nicht dem Sündenfall unterlegen war, sondern im Himmel als dessen ‹Schwesterseele›, als ‹Mutterseele der Menschheit› zurückblieb. Die königliche Herkunft des Jesus aus dem Matthäusevangelium hingegen sowie der Besuch der Magier oder Priesterkönige aus dem Morgenland deuten auf einen Zusammenhang dieses Jesus mit einer orientalischen Weisheitsströmung hin. Deren Träger Zarathustra, der Schöpfer der urpersischen Kultur (der später als Zarathas oder Nazarathos die chaldäischen und babylonischen Sternenreligionen begründete), nahm in Jesus bis zu seinem zwölften Lebensjahr Wohnung.

Beide Knaben wurden eins, als Zarathustra den Körper des salomonischen verließ und im nathanischen Einzug hielt, was eine staunenerregende Wesensveränderung des letzteren zur Folge hatte. Darauf deutet die von Lukas erzählte Geschichte des Zwölfjährigen im Tempel hin: «Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie [die Eltern] ihn sahen, entsetzten sie sich.» Der große Lehrer des Kampfes zwischen Licht und Finsternis sollte bis zum dreißigsten Lebensjahr, bis zur Taufe am Jordan, im nathanischen Jesus verweilen, um schließlich einem Größeren Platz zu machen, der bei diesem Ereignis mit seinem ganzen Wesen endgültig in ihn einzog.

Kulturgeister

Mit diesen Ausblicken sind aber die Tiefen der nathanischen Seele keineswegs erschöpft. Kennern der einschlägigen Darstellungen Rudolf Steiners mögen sie vertraut sein, und doch erscheinen sie in Lindes Erzählung in besonders eindringlichem Licht. Der nathanische Jesus nämlich empfing auch Geistesgaben des Siddhartha Gautama, der in seinem durch die Verklärung unter dem Bodhibaum erlangten Lichtleib den Hirten auf dem Felde inmitten von Engelsscharen erschien und seine Inspiration in ihn einströmen ließ. Und nicht erst bei der Taufe am Jordan durchdrang die Christuswesenheit, der Sohn Gottes, die nathanische Seele, sondern auch in weitaus früheren Zeiten, dreimal nach dem Sündenfall, im Umkreis der Erde, als die Evolution der gefallenen Menschheit unter dem Einfluss Luzifers und Ahrimans zu entgleisen drohte. Auch diese Geschehnisse, die zur Rettung der menschlichen Sinnesorganisation sowie zur Harmonisierung der Lebens- und Seelenkräfte führten, und ihre Verbindung mit der Gestalt des Krishna, der in der Bhagavad Gita porträtiert wird, finden sich in Lindes Ausführungen konzentriert wieder.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Enthüllungen über die Lebensgeschichte Jesu zwischen seinem zwölften und dreißigsten Lebensjahr aus Steiners Vorträgen über das fünfte Evangelium, die vom Autor eindrucksvoll zusammengefasst werden. Hierbei geht es um das Verstummen der Bath Kol, der Stimme Gottes, die einst zu den Propheten sprach, um den Verfall der heidnischen Spiritualität zu verhindern und dem Versagen der Essäer, die zwar Seelenrettung für sich, aber nicht für die Menschheit anstrebten, zu begegnen. Im längsten Kapitel des Buches ‹Christus in Jesus› geht der Autor ausführlich auf die Geheimnisse der beiden Stammbäume ein und wirft ein erhellendes Licht auf die Mariendogmen der katholischen Kirche (unbefleckte Empfängnis, jungfräuliche Geburt, Gottesmutterschaft). Gleichzeitig betont er im Anschluss an Steiner die natürliche Abstammung der Jesusknaben.

Komplexe Konfiguration

Alles in allem vereinigte Jesus von Nazareth die spirituelle Substanz der gesamten vorchristlichen Religions- und Geistesgeschichte in sich, um schließlich, vom Christuswesen durchdrungen, zum Ausgangspunkt einer neuen Epoche der religiösen und seinsgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu werden. Detailliert geht der Autor auf die komplexe Konfiguration seines Wesens ein, das durch all die angedeuteten Einflüsse vorbereitet, drei Jahre lang Christus durch sich zu offenbaren und schließlich mit ihm nach dem Tod am Kreuz aufzuerstehen vermochte. Damit ist aber das Wesen dieses von Gott durchdrungenen und erneuerten Menschen keineswegs erschöpft, denn es blieb seit dem Mysterium von Golgatha mit der spirituellen Geschichte der Menschheit verbunden. In seinem lichtdurchdrungenen Geistleib erschien es Paulus vor Damaskus, von seinen mit der Lebenskraft Christi durchdrungenen Wesensgliedern gingen vielfältige inspirierende Wirkungen auf die Entwicklung des Christentums in den folgenden Jahrhunderten aus. Sein Seelenbruder Zarathustra trug als Meister Jesus zu dessen esoterischer Vertiefung bei. Als die historische Macht des Christentums durch den Siegeszug der atheistischen Naturwissenschaften, durch Aufklärung und Säkularisierung zu schwinden begann und die abendländische Menschheit im 19. Jahrhundert im Materialismus zu versinken drohte, bereitete die Seele des nathanischen Jesus durch ein weiteres Opfer, das im Zusammenhang mit dem Sturz der Geister der Finsternis und dem Anbruch des Michaelzeitalters zu sehen ist, den Aufgang eines neuen lichten Zeitalters und die Entstehung der Anthroposophie vor. Auch beim Wiedererscheinen Christi in ätherischer Gestalt ab dem 20. Jahrhundert spielt sie eine entscheidende Rolle und eröffnet seither allen, die ihn suchen, einen Zugang zum lebendigen Christus.

Lindes Buch wird jeder und jedem willkommen sein, die oder der eine Einführung in die über das Gesamtwerk Steiners verstreuten Ausführungen zu den beiden Jesusknaben sucht, und als Zusammenschau wird es auch jenen hilfreich sein, die mit ihnen bereits vertraut sind.


Buch Frank Linde: Jesus von Nazareth und das Geheimnis der nathanischen Seele. Glomer, Sauldorf-Roth 2024

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