Das chinesische und das deutsche Ich

Das Ich im Altchinesischen heißt <Wu> (吾), gleichzeitig bedeutet <Wu> (无) das Nichts, <Wu> (乌) kann auch für schwarz oder dunkel stehen. Das Ich im Deutschen ist <Ich>, dieses <Ich> ist im <N-ich-ts> und <L-ich-t> verborgen.


Es ist aufschlussreich, die Gemein-samkeiten und Unterschiede des Ich in den beiden Sprachen zu betrachten. Im Chinesischen ist ‹U› der Kernvokal, im Deutschen dagegen ‹I›. Beide Ich haben mit dem Nichts zu tun, was darauf hinweist, dass das Ich das Überpersönliche und das Transzendente offenbart. Das chinesische <Nichts> (无)hat einen aufsteigenden Ton, der vom Grundton, also vom irdischen Boden emporsteigt, was ein in das Immaterielle hinaufgehendes Unsicherheitsgefühl evoziert. Anders gesagt, durch den nach oben strebenden Ton verwandelt sich das chinesische Ich in das Nichts. Im Deutschen hingegen wird es durch den Laut <N> erfüllt, der eine verneinende Haltung impliziert.

Das chinesische Ich fühlt sich im Dunkeln (乌) – es schläft tief in der Wiege dess Ursprachgeistes, der vor dem Bau des Turmes zu Babel die ursprüngliche menschliche Sprache versuchsweise erschuf. «Ich möchte sagen, daß ein grandioses Denkmal von der Mitte der atlantischen Kultur zurückgeblieben ist, und das ist die chinesische Sprache. Diese Sprache hat etwas rein Zusammensetzendes und zu gleicher Zeit etwas Ursprüngliches, wo in dem Laute selbst etwas Inneres, Seelisches und ein gewisses Verhältnis zur Außenwelt ausgedrückt wird.»1 Der chinesische Sprachgeist offenbart sich auf künstlerische und unmittelbare Weise als Klang und Bild, und zugleich befindet sich das chinesische Ich im dunklen <Wu> (乌).Das deutsche Ich fühlt sich im Licht geboren, wobei der Laut <L> ein fließendes Element ist, welches das im Raum fließende Licht in das <Ich> hineinführt; <t> ist wie ein feiner Nachklang.

Das Wörtchen <Ich> in einer Sprache verrät zutiefst das Ich- beziehungsweise das Individuumsgefühl in derselben Kultur. Nach Nietzsche wird die neue Art von Kunst immer durch den Konflikt und die folgende Versöhnung des Apollinischen und Dionysischen geboren.2 Man könnte ahnen, dass das Deutsche als eine apollinische Sprache anzusehen sei, während das Chinesische eine dionysische Sprache ist. In der Gegenwart ist der Kontrast zwischen der im atlantischen Bewusstseinszustand zurückgebliebenen chinesischen Kultur und der germanisch-angelsächsischen Kultur leicht einzusehen. Könnte eine Versöhnung, gar eine Resonanz dazwischen stattfinden? Wenn ja, wie? Das ist eine aktuelle Frage. Es kommt darauf an, wie wir uns dafür einsetzen können. Es lässt sich spüren, dass der Sprachgeist in jeder Kultur unter der Herausforderung der Digitalisierung und Mechanisierung bereits müde und absteigend lebt, deshalb können wir, beziehungsweise unser individuelles Ich, die Aufgabe übernehmen, die Sprachen in unserer Seele durch unsere Forschung an den mütterlichen sowie fremden Sprachgeistern weiterzuentwickeln.


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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Die Welträtsel und die Anthroposophie. GA 54, Vortrag vom 9.11.1905.
  2. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke. Gondorf, Bindlach 2005.

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