Wolf-Ulrich Klünker skizziert in seinem Buch eine anthroposophische Psychotherapie, die Vertrauen ins Denken stärkt und Selbsterkenntnis von Behandlung trennt.
Als das Buch erstmals 1997 im Verlag Freies Geistesleben erschien, hatte ich es mir gleich gekauft, durchgearbeitet, aber nicht viel davon verstanden. Die 28 Jahre seitdem habe ich mich mit Anthroposophie und Psychotherapie beschäftigt. Als ich nun die Neuauflage in die Hand nahm, merkte ich erst, wie tiefgreifend und zukunftsweisend die Gedanken von Wolf-Ulrich Klünker waren und sind.
Der Untertitel der dritten Auflage des Buches lautet: ‹Zur psychotherapeutischen Dimension der Anthroposophie›. Diese Dimension begründet der Autor anhand von Notizbucheinträgen und Vorträgen von Rudolf Steiner und beruft sich auf Thomas von Aquin, Alanus ab Insulis, Aristoteles, Origenes und Hegel. Kein einziges Zitat eines Psychiaters oder einer Psychotherapeutin. Auch Steiner war dies nicht. Gerade deshalb konnte er seine Gedanken und Erkenntnisse frei aus dem ‹Geistraum› schöpfen. Klünkers Arbeit ist eine Zusammenfassung und Weiterführung dieser Gedanken zur Begründung einer Psychotherapie in Selbsterkenntnis der Seele vom Geiste aus. Grundlage dafür ist die Wiedergewinnung einer Vertrauensbeziehung zum Denken und damit verbunden die Anknüpfung der Seele an den Geist, eine Aufgabe zur Gesundung unserer Kultur.
Klünkers Kernaussagen sind: 1. Es braucht Erkenntnismittel, die die Liebesfähigkeit nicht zerstören. 2. Es gibt einen Zusammenhang und einen Unterschied zwischen Selbsterkenntnis und Psychotherapie, zwischen Schulungsweg und Behandlung. Eindrücklich wird auf die im zweiten der 185 ‹Leitsätze› von Rudolf Steiner erwähnte Grenzüberschreitung der Sinnesanschauung zum Ausblick in die geistige Welt verwiesen und auf den zentralen Übungsweg, die Entwicklungsmöglichkeiten der Seele zur Wirklichkeit unter der Führung des Ich zu ermächtigen, die Punkt-Umkreis-Meditation des ‹Heilpädagogischen Kurses›. Das Entwicklungspotenzial einer neuen Sichtweise auf die Biografie als Selbstkultur und Willensschulung entwickelt Klünker anschaulich anhand von Steiners Schilderungen von Glück und Unglück. Einbezogen hierin ist der Schlaf, insbesondere auch das Leben im Traum, das durch imaginäre Erkenntnis, Kontemplation, erfasst werden kann. Für die Depression als Zeit- und Lebensproblem wird die Symptomatik als Erleben der Anbindung der Seele an den Leib dargestellt, mit der Heilungsperspektive der Auferstehung der Seele zum Geist aus dieser Ohnmacht. Diese geistige Anbindung ist die Quelle von Zukunftsfähigkeit. Ausführlich geht der Autor auf Therapie und Übungswege ein. Diese Kapitel bergen große Schätze für die Weiterentwicklung einer ‹anthroposophischen Psychotherapie›. Die Vorträge von Steiner zur Psychoanalyse und sein Votum zur Psychiatrie werden differenziert angeschaut. Ausführlich werden die Hinweise für Erkenntnis und Verständnis seelischer Prozesse im ‹Heilpädagogischen Kurs› Rudolf Steiners erörtert, einschließlich der Psychologie der Organe. «Psychologischer Begriffsrealismus ist der Ausgangspunkt für therapeutische Bemühungen mit Mut und Vertrauen, die Methode der geisteswissenschaftlichen Therapie ist die durch richtige Begriffe geleitete Erkenntnis», schreibt Klünker.
Dieses kleine Buch ist ein großer Wurf für eine Grundlegung der von Rudolf Steiner geforderten Umgestaltung der Psychiatrie und Neubegründung einer Psychotherapie aus der Bewusstseinsseele. Die dargestellten anregenden Impulse und neuen Verständniszugänge warten weiterhin darauf, im psychiatrischen und psychotherapeutischen Arbeitsalltag fruchtbar gemacht zu werden.
Buch Wolf-Ulrich Klünker: Selbsterkenntnis, Selbstentwicklung – Zur psychotherapeutischen Dimension der Anthroposophie. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart. 3. Auflage 2025








