In der heilpädagogischen Therapie nimmt Rudolf Steiner im 20. Jahrhundert eine besondere Rolle ein. Sein Anspruch, sogenannte ‹behinderte› Menschen zu Entwicklungsfortschritten zu bringen, steht im Gegensatz zu damaligen Zeittendenzen.
Der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche hatten bereits 1920 zur Euthanasie aufgerufen. Ihr Buch1 arbeitet Steiner intensiv durch, wie das Exemplar in seiner Bibliothek zeigt. Im Jahr 1933 kam das ‹Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses›, später folgten die Krankenmorde in den Tötungsanstalten. In Kürze erscheint eine ausführliche Dokumentation von Peter Selg und Mitarbeitenden, wie die anthroposophischen Heilpädagogen während des Dritten Reichs die Kinder in Heimen wie Lauenstein/Seewalde oder Gerswalde vor der Euthanasie retten konnten. Steiners ‹Heilpädagogischer Kurs›2 stellt die Grundlagen von Entwicklungsstörungen und ihre Therapie dar. Ziel ist die Entwicklung der Individualität, nicht die Verwahrung.3 Die kleinen Fortschritte der Persönlichkeitsentwicklung und Autonomie waren Steiner wichtig, es ging ihm um «jeden Grad von Besserung». Grundlage dafür ist ein Interesse für das «Mysterium der menschlichen Organisation». Vielfach erweitert Steiner die seinerzeit üblichen Diagnosen und Begriffe für Entwicklungsbeeinträchtigungen: Zum Beispiel versteht er Epilepsie als umfassende totale Beziehungsstörung zur Welt, die nicht nur zum Krampfleiden führen kann, sondern auch Sinnesstörungen und die Verarbeitung der Wahrnehmungen umfasst. Die historische Bezeichnung ‹Hysterie› definiert er neu als Summe von Überempfindlichkeiten, heute spricht man von ‹hypersensiblen Kindern›. Einem damals vorgestellten Mädchen würde man heute ADHS attestieren. Ein Junge zeigt nach heutigem Verständnis autistische Züge. Bei ihm sollen äußerst vorsichtige Farb- und Lichteinflüsse wirken. Auch für die scheinbar aussichtslose Situation eines Kindes mit Wasserkopf soll die Therapie fortgeführt werden. Pädagogische und medizinische Maßnahmen ergänzen sich stets, zum Beispiel eine medikamentöse Therapie, Heileurythmie, Sprachtherapie, oft auch eine Diät.
Steiner schlug vor, vom seelenpflegebedürftigen Kind zu sprechen4, mit der Begründung: «Wir müssen einen Namen wählen, der die Kinder nicht gleich abstempelt.» Zugleich kritisiert Steiner die Denkgewohnheiten seiner Zeit und spricht vom «sogenannten» Normalen, Abnormen, von Geisteskrankheiten, «sogenannten» Seelenkrankheiten, «sogenannter Verrücktheit».
In der Neuausgabe des ‹Heilpädagogischen Kurses› von 2024 wird durch die Herausgebenden Anne Weise und Rüdiger Grimm versucht, der Gesprächssituation im Kurs gerecht zu werden. Die im damaligen Wortgwebrauch üblichen Formulierungen wurden beibehalten und im Anhang ausführlich kommentiert. So war der heute negativ besetzte Begriff ‹minderwertig› für behinderte Kinder damals üblich. Man sprach von «Kinderfehlern»5 für alle vom «sogenannten Normalen» abweichenden Entwicklungsstörungen. Der Heilpädagoge Johannes Trüper in Jena nannte sie 1893 «Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter»6. Noch 1926 sprach der Schweizer Kinderarzt Emil Feer von «psychopathischer Minderwertigkeit»7. Wenn Steiner von einer «abnormen» Dysfunktion der Leber und ihrem pathologischen Rhythmus spricht, verwendet er also das seinerzeit übliche Vokabular. Er bezog die Bezeichnung streng auf den Lebenskräfteleib und seine Schwächen. Unter «schwachsinnig erscheinend» verstand er, dass das Kind seine «verdichtete physische Organisation» nicht in Bewegung bringen kann. Um eine angemessene Bezeichnung von ‹Menschen mit Entwicklungsbedarf› wird auch heute gerungen. Steiner sprach vom «unvollständig entwickelten» Kind. Heute spricht man von ‹intellektueller Entwicklungsstörung›8, ‹Assistenzbedarf› oder von ‹betreuten Mitarbeitenden›. Die englische Bezeichnung ‹Children with Special Needs› kommt diesem Konzept des Entwicklungsbedarfs sehr nahe. Vor allem verlangte Steiner höchste Moralität von Heilpädagoginnen und Sozialtherapeuten als therapeutisches Mittel. Wirksam ist nicht eine therapeutische Methode, sondern die innere Einstellung der Erziehenden, ihr So-Sein als Mensch und Persönlichkeit. Das Kind durchschaut seine Erzieherin. Oft hat man den Eindruck, dass Menschen mit Assitenzbedarf dies besonders gut können. Um auf ihren «mangelhaft ausgebildeten Ätherleib» wirken zu können, muss sich der Erzieher selbst seelisch und charakterlich entwickeln und zum Vorbild werden. Das nannte Steiner das ‹Pädagogische Gesetz› für jede Pädagogik. Auch wenn manche teils zeitgebundenen, teils verdeutlichenden Formulierungen Steiners zu Missverständnissen Anlass geben können, bleibt sein Ansatz zeitlos emanzipatorisch.
Bild Schloss Gerswalde, CC BY-SA 4.0: wikipedia.org
Fußnoten
- K. Binding, A. Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1920.
- R. Steiner, Heilpädagogischer Kurs. GA 317, 10. Aufl., Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2024.
- N. Schwarte, Abseits oder voraus? – Der Beitrag der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie zur Entwicklung der Hilfen für Menschen mit Behinderungen. Zeitschrift ‹Seelenpflege› 2014 (32;1) 6–19.
- A. Strohschein, Die Entstehung der anthroposophischen Heilpädagogik, in: Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler. Stuttgart 1980, S. 216 f.
- J. L. A. Koch, Kleine medizinisch-pädagogische Abhandlungen. In: Die Kinderfehler, Heft 1, 1899.
- J. Trüper, Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter. Ein Mahnwort für Lehrer, Eltern und Erzieher. Gütersloh 1893.
- E. Feer (Hrsg.), Lehrbuch der Kinderheilkunde. Gustav-Fischer-Verlag, Jena 1926 (Erstauflage 1911), S. 533.
- T. Sappok, D. Georgescu, G. Weber, Intellektuelle Entwicklungsstörung – Überlegungen zur Begrifflichkeit. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2019.








