Von Demokratie bis Liebesstaat

Claudine Nierth im Gespräch

Warum nehmen wir unsere Gesellschaften heute als gespalten wahr und wie können wir wieder zusammenkommen? Claudine Nierth arbeitet seit Jahrzehnten für mehr direkte Demokratie in Deutschland, unter anderem im Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie. Sie sieht in der Krise einen Aufruf nach Veränderung – in uns selbst und im politischen ‹Betriebssystem›. Das Gespräch führte Franka Henn.


Heute wird viel von der Spaltung der Gesellschaft geschrieben. Ihr zweites Buch, das Sie mit Roman Huber zusammen geschrieben haben, heißt auch ‹Die zerrissene Gesellschaft›. Wann fing das Zerreißen an – und woran messen wir, ob eine Gesellschaft ‹zerrissen› ist?

Claudine Nierth Unterschiedliche Standpunkte, polare Meinungen und Haltungen gab es schon immer. Aber die Frage ist: Warum erleben wir sie auf einmal als so spaltend und bedrohlich? Wodurch erleben wir uns plötzlich als zerrissen?

Wann es genau anfing, kann ich nicht sagen, aber unübersehbar wurde es in der Corona-Zeit. In den ersten Wochen waren alle Menschen noch sehr unsicher und offen. Aber mit den ersten Erkenntnissen und den folgenden Maßnahmen bildeten sich unterschiedliche Interpretationen von der eigentlichen Gefahrenlage. Und als sich dann eine Interpretation durchsetzte und die folgenden Maßnahmen alle anderen Interpretationen dominierten, war das Problem da. Für Meinungsverschiedenheit, Vielfalt oder Pluralität war plötzlich kein Raum mehr. Das hat zu massiven Auseinandersetzungen geführt. Ich würde sagen, Zerrissenheit entsteht immer dann, wenn sich die einen von den anderen dominiert erleben. Wenn Menschen das Gefühl haben, untergebuttert, übergangen oder einfach nicht gehört zu werden. Wenn es dann noch um die Unversehrtheit und das eigene Leben geht, wird es eng.

Als Künstlerin und Gestalterin öffentlicher gesellschaftlicher Räume sind Sie für den Verein Mehr Demokratie aktiv. Sie sind sowohl mit Bürgerinnen und Bürgern als auch mit Politikerinnen und Politikern im Austausch. Was beobachten Sie?

Das Misstrauen der Menschen in die staatlichen Institutionen, in die Politik, ist enorm gewachsen. Die Gräben werden größer. Umgekehrt sind auch Politiker und Politikerinnen immer frustrierter, weil es ihnen nicht gelingt, die Probleme für die Menschen zu lösen. Und die Menschen sind dünnhäutiger geworden. Wir alle scheinen etwas dünnhäutiger zu werden. Wir reagieren heftiger auf Reize und Störungen, sind weniger resilient, also widerstandsfähig. Unsere Zündschnur scheint kürzer zu sein als noch vor zehn Jahren. Das hat zur Folge, dass wir oft heftiger reagieren. Es gibt immer mehr Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr dazuzugehören. Die sich ausgegrenzt, benachteiligt oder übersehen fühlen, und zwar durch alle Altersschichten. Wir erleben, dass Menschen sich zurückziehen und stiller werden, und wir erleben, dass Menschen aufgeben. Und dann gibt es noch die, die renitent werden oder sich radikalisieren.

Spaltung ist eine Form der Vermeidung. Wenn wir etwas nicht aushalten, wenn wir etwas nicht fühlen wollen, distanzieren wir uns. Wir gehen innerlich auf Abstand. Wenn unser Gegenüber Dinge sagt, die wir nicht gut finden, gehen wir dem innerlich und äußerlich aus dem Weg. Am Ende wollen wir mit anderen nicht mehr die Demokratie teilen. Spaltung ist vor allem der Verlust von Beziehung. Das erleben wir in unseren Partnerschaften, das erleben wir in unseren Familien, Freundeskreisen, bei der Arbeit oder eben auch gesellschaftlich. Sich zu trennen ist heute leichter als zusammenzuhalten. Das war vor hundert Jahren sicher umgekehrt. Oder?

Auf jeden Fall. Sehen Sie die Demokratien heute in Gefahr und was bedroht sie?

Ich halte den herrschenden Politikbetrieb für bedrohter als die Demokratie. Die Menschen sind nicht unzufrieden mit der Demokratie, sondern mit der Politik. Seit siebzig Jahren haben wir ein Regierungssystem, ein Betriebssystem, das sich mit den Menschen nicht weiterentwickelt hat. Damit dieses Betriebssystem wieder unsere Erwartungen erfüllt, müssen wir es entsprechend updaten. Zum Beispiel könnten wir die Demokratie weiter demokratisieren, die Menschen mehr einbeziehen und an den großen Entscheidungen beteiligen. Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen, statt sie einigen wenigen zu überlassen. Warum hat der Staat uns in der Bewältigung der Pandemie nicht zu seinen Mitarbeitenden gemacht? Jede Schule, jeder Betrieb, jedes Veranstaltungshaus hätte doch selbst Strategien des Schutzes entwickeln und alle Menschen zur Mithilfe einladen können. Stattdessen haben alle vom Staat erwartet, dass er uns die Probleme vom Hals hält. Damit war der Graben zwischen Politik und Bürgerschaft gezogen.

In Ihrem Buch verlangen Sie nach einer stärkeren Beachtung des emotionalen und psychologischen Gepäcks, das Einzelne wie auch Gruppen in die Gemeinschaft einbringen. Wie hängt hier Innen und Außen zusammen?

Es gibt unverarbeitete emotionale Erfahrungen. Das sind Erlebnisse, kleine oder große, die wir mit unserem Bewusstsein nicht durchdrungen haben und deshalb abspalten oder einfrieren. Diese Erlebnisse drängen sich wiederholt in unser Leben, bis wir sie verarbeiten. Aber so lange tauchen sie immer wieder auf. Sie belasten uns. Wir erkennen sie an ihrem Wiederholungscharakter. Wir fühlen uns getriggert, sagen dieselben Sätze, die wir immer sagen in diesen getriggerten Situationen, und erleben die Situationen als bedrohlicher als eigentlich angemessen. Die Psychologie spricht von Traumata, welche wir stetig wie einen Ball unter Wasser zu drücken versuchen, damit wir sie nicht spüren. Je gestresster und dünnhäutiger wir sind, desto mehr kommen sie an die Oberfläche.

Die Coronapandemie und auch Russlands Angriff auf die Ukraine haben uns gesellschaftlich stark getriggert. Corona hat zum Beispiel vier vorherrschende Ängste aktiviert: Angst vor Krankheit und Tod. Angst vor staatlicher Übermacht. Angst vor Existenzverlust. Angst, jemanden durch Ansteckung zu gefährden. Je nachdem, welche Angst jemand hatte, hat er eine andere politische Forderung vertreten, um seine Angst zu stillen. Wer Angst vor Krankheit und Tod hatte, verfolgte die Null-Covid-Strategie. Wer Angst vor staatlicher Übermacht hatte, forderte die Abschaffung aller Einschränkungen. Wer Angst hatte, seine Verwandten anzustecken, hat sie gemieden oder eingeschlossen. Wer Angst hatte, seine Existenz zu verlieren, forderte die Aufhebung des Lockdowns und so weiter. Dieses Muster zog sich genauso durch die ganze politische Riege. Deshalb kamen die Bundesländer auch zu unterschiedlichen Maßnahmen. Aber es gab kein Bewusstsein von den unterschwelligen Motiven und persönlichen Ängsten. Und es gab nur sehr wenige Menschen, die nicht getriggert, sondern gelassen und besonnen blieben.

Wenn wir uns heute den Krieg in der Ukraine oder zwischen Israel und den palästinensischen Gruppen anschauen, dann sind es die unverarbeiteten und sich seit Jahrhunderten wiederholenden Erfahrungen aus der Vergangenheit, die die aktuellen Konflikte befeuern. Jeder fühlt sich im Recht, den anderen vernichten zu dürfen, um sich selbst zu verteidigen. Diese Muster können sich überall auf der Welt über Jahrhunderte wiederholen – ohne sich aufzulösen. Die jüngere Traumaforschung spricht hier von einem kollektiven Trauma, welches sich ins Gedächtnis einer Nation und deren Kultur geschrieben hat. Jedes Land trägt so eine andere Vergangenheit mit sich, die bei gewisser Reizung immer wieder reaktiviert wird. Wir können es auch das Schicksal oder das Karma eines Landes nennen.

Heute brauchen wir ein Bewusstsein für diese Mechanismen, wenn wir diese Wiederholungsschleifen durchbrechen wollen. Wir brauchen neue Kulturkompetenzen, um gesellschaftlich und politisch widerstandsfähiger zu werden und um den Krisen begegnen zu können, ohne den inneren Zusammenhalt nicht zu verlieren.

Was meinen Sie mit dem Paradigma: ‹Es braucht ein fühlendes Denken in der Politik›? Was würde das für Politiker und Politikerinnen bedeuten?

Jedem Gedanken liegt ein Gefühl zugrunde. Dessen sind wir uns aber meistens nicht bewusst. Politik hat immer den Anspruch, rational zu sein, und übersieht dabei gerne das Gefühl, das hinter der Handlung oder der Absicht liegt und das einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen hat. Stellen wir uns mal vor, wir würden uns prozessual erst unserer Gefühle und unserer Bedürfnisse bewusst werden und uns dann der Gesetzgebung zuwenden. Wir müssen fühlen lernen, wie unser Denken auf die Welt wirkt. Dann kommen wir auch weg von den Ideologien. Wie oft werden aus Kränkung, Angst oder Wut die falschen Entscheidungen getroffen? Maren Urner, eine junge Psychologin, die gerade durch die Talkshows gereicht wird, hat in ihrem Buch ‹Radikal emotional› sogar vorgeschlagen, ein Liebesministerium einzuführen. Man stelle sich vor, wir hätten die Liebe als ständigen politischen Ratgeber mit am Tisch? Das schlägt eine Wissenschaftlerin heute vor, ist doch erstaunlich, oder? Das ist eine Vision. Aber warum nicht?

Innere Arbeit ist essenziell, aber sie kann nicht verordnet werden. Wie gehen Sie in Ihrer demokratischen Arbeit damit um, wenn eine Weigerung oder Unfähigkeit, an sich selbst zu arbeiten, besteht?

Wir brauchen zuerst ein Bewusstsein darüber, dass sich diese schattenhaften Emotionen überall in unserem Leben in unser Handeln einmischen. Dann braucht es einen sensiblen Umgang damit. Zuletzt braucht es Kompetenz, die in der Lage ist, diese Schatten zu lichten und unverarbeitete Erlebnisse zu verdauen. Wir müssen gesellschaftliche Innenräume haben, wo wir uns als Gesellschaft ganz selbstverständlich regulieren und stabilisieren können. Innere Arbeit muss nicht jeder machen. Aber die, die können und wollen, stehen in der Verantwortung, sie zu tun. Jeder von uns ist eine Säule der Gesellschaft. So wie ich bin, präge ich auch mein unmittelbares Umfeld. Je stabiler ich innerlich bin, desto mehr profitiert mein Umfeld davon. Je mehr ich öffentliche Verantwortung trage, desto stabiler muss ich sein, desto reflektierter muss ich auch mit meinen eigenen Schattenseiten umgehen können.

Wo bemerken Sie an sich selbst, dass Sie für mehr Demokratie an sich innerlich arbeiten müssen?

Nur weil wir in einer Demokratie leben, sind wir noch lange nicht Demokraten. Ich werde seit dreißig Jahren täglich ein bisschen mehr Demokratin. Ich werde jeden Tag ein bisschen verständnisvoller für andere Positionen. Ich werde demütiger, weil ich immer mehr verstehe, dass die Demokratie nicht davon lebt, dass ich weiß, wo es langgeht, sondern dass wir die Intelligenz aller Menschen brauchen, um zu guten Wegen in die Zukunft zu kommen. Ich persönlich übe mich gerade darin, täglich meinen Innenraum etwas zu weiten, das Herz größer werden zu lassen, um den vielfältigen, polarisierten Themen in mir Platz zu geben. Ich muss die Polaritäten in mir halten können, um ausgleichend wirken zu können. Die innere Mitte zu halten, einen Ausgleich zwischen den Polen herzustellen, ist für mich eine sehr wichtige demokratische Kompetenz. Wenn ich mir eine Demokratie der Zuneigung wünsche, dann muss ich diese Zuneigung auch ermöglichen, und zwar zuerst in mir. Demokratie heißt für mich nicht, bei denen zu sein, die so sind wie ich, sondern auch dahin zu gehen, wo es unbequem oder eben völlig anders ist.

Ich glaube, ein Teil der gesellschaftlichen Spaltung ist nicht allein auf Zukunftssorgen oder Traumata zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass wir überwältigt sind. Überwältigt von den Unmengen an Informationen, von den zahlreichen sozialen Verbindungen und der Komplexität der Welt, die wir erleben. Es hat sich gezeigt, dass Stress oder das Gefühl der Überwältigung uns empathieloser und aggressiver machen – also zum Gegenteil dessen führen, was nach Ihrer Vision gebraucht wird. Was sagen Sie sich selbst, wenn Sie überwältigt sind?

Ja, das ist genau so. Überwältigung macht uns aggressiv und trennt uns. Aber wieso sind wir denn überwältigt? Überwältigung entsteht genau da, wo Trauma entsteht oder schon ist. Da packen wir es dann eben nicht mehr und werden aggressiv und unempathisch. Hinter jeder Aggression steht meistens eine Angst. Wenn wir aggressiv werden, wollen wir etwas schützen, was wir bedroht sehen. Meistens ist es ein Bedürfnis, das wir gefährdet sehen.

Genau für diese Momente der Überwältigung brauchen wir ein Umfeld, das damit umgehen kann. Im Meeting unter Kolleginnen und Kollegen oder in einer Regierung hilft es, wenn einige wenige Menschen ein emotionales Wissen über Reiz-ReaktionsMuster haben oder so Trauma-informiert sind, dass sie sofort erkennen, wenn jemand in die Überforderung gerät oder getriggert ist. Das Umfeld kann stabilisierend damit umgehen. Jeder Mensch sollte wissen, was er braucht und wo das Ende seiner Zündschnur ist. Bei dem einen ist sie länger, bei dem anderen kürzer. Das ist nicht schlimm. Nur wissen müssen wir es.

‹Demokratie der Zuneigung› klingt nach etwas Schönem, Visionärem. Kann man danach auch streben, wenn die Hütte schon brennt? Bleibt das Ihr Ziel, auch wenn Sie auf die Landtagswahlergebnisse in Thüringen, Sachsen, Brandenburg blicken, oder sehen Sie jetzt dringendere Etappenziele?

Gerade wenn die Hütte brennt, müssen wir doch den Brandherd in den Griff bekommen. Die Hütte brennt doch, weil die Demokratie große Defizite aufweist und sich die Menschen übergangen fühlen. Weil sie ihre Sorgen nicht ernst genommen sehen und ihr Alltag sie immer mehr belastet. Die etablierten Parteien müssen gerade hart einstecken, weil sie für viele Menschen und ihre Probleme gerade keine Zuneigung zeigen. Die etablierten Parteien und Politiker, Politikerinnen werden als abgehoben und fernab der Welt erlebt. Ob das stimmt oder nicht, sei dahingestellt, erst mal fehlt da die Verbindung zu den Menschen. Demokratie bedeutet vor allem Beziehungen herstellen, zu den Menschen, zu den Sorgen, zu den Problemen und zu den Lösungen. Diese Beziehung ist entweder nicht da oder sie ist gestört. Sich abzuwenden, weil man nicht gefragt wird, ist heute an der Tagesordnung. Dann hofft man auf die Neuen. Die neuen Parteien, die neuen Politiker und Politikerinnen und so weiter. Und wenn sie dran sind, folgt die nächste Enttäuschung, weil sie im selben Boot sitzen, welches immer noch mit dem alten Betriebssystem arbeitet. Am Ende ruft man nach der starken Hand, die alles regelt. Das ist die Falle!

Wer die Menschen aber befähigt, ihre Probleme selbst zu lösen, und ihnen das Gefühl gibt, Teil der Lösung statt Teil des Problems zu sein, der erlebt sehr viel Engagement. Die Menschen wollen sich einsetzen.

Immer wieder heißt es in Reden, man müsse die Leute wieder abholen oder zurück ins Boot holen. Dabei liegt der Fokus auf den Menschen, die die ‹Leitfiguren› verloren haben, was in sich schon ein gespaltener Blick ist. Wie können wir denn – angesichts der Auseinandersetzungen zu Migration, Pandemie und Krieg – wieder an einen Tisch finden und neue Augenhöhe herstellen?

Wir bekommen gerade sehr viel Unterstützung und Gelder unter anderem auch von Landesregierungen wie zum Beispiel in Brandenburg, um dort in die Gemeinden zu gehen, wo die Menschen nicht mehr miteinander sprechen und verstummt sind.

Wir haben bei Mehr Demokratie mit ‹Sprechen & Zuhören› ein neues Dialogformat entwickelt. In diesen Dialogen laden wir den Querschnitt bzw. alle Einwohnenden in den großen Gemeindesaal ein. Wir bringen die Menschen in kleinen Gruppen zu viert zu einem Austausch, in dem das eigene Erleben mitgeteilt werden kann. Dies wird dadurch erreicht, indem jede Person gleich viel Redezeit bekommt. Nacheinander spricht immer eine Person für vier Minuten, während die anderen nur zuhören, weder unterbrechen noch kommentieren, dafür sich selbst beobachten, was sie erleben, während sie zuhören. Diese Runde machen wir dreimal, immer zur gleichen Frage, wie zum Beispiel: «Wie geht es mir im Umgang mit der AfD» oder «Wie geht es mir 35 Jahre nach der Wende» oder «Wie geht es mir mit der zunehmenden Migration». Wenn wir so fragen und die Menschen einander zuhören, dann geht es nicht um besser wissen und recht haben, sondern darum zu verstehen, was der andere erfahren hat oder was ihn zu diesem oder jenem Bedürfnis bringt.

Wir haben sehr viel Erfolg und Zuspruch mit ‹Sprechen & Zuhören›. Wir werden von Bürgerinitiativen, Bürgermeistern oder vom Sportverein eingeladen. Wir bieten ‹Sprechen & Zuhören› auch online jeden ersten Mittwoch im Monat von 19 bis 20.30 Uhr an. Sie finden das bei uns auf der Website von Mehr Demokratie. Wir bilden gerade Hunderte von Moderatoren und Moderatorinnen aus, die diese Arbeit vertiefen und weitergeben wollen. Wir wollen das Format verbreiten und die nächsten Jahre dadurch die demokratische Kultur stärken. Die Menschen sehnen sich genau danach. Sie erfahren wieder Begegnung jenseits ihrer Meinungsunterschiede. Erst kommt die Zuneigung, dann das Zuhören, dann die menschliche Verbindung. Irgendwann ist auch für inhaltliche Verbindungen Platz. Verstehen Sie, was ich meine?

Ja. Und den Anfang – ‹Zu-Neigung› – nehme ich mal wörtlich. Im Beginn ist die Bereitschaft, sich auf ein Gespräch einzulassen und sich dem anderen Menschen zuzuneigen und ihn jenseits der Meinungsverschiedenheit zu respektieren, entscheidend. Das erzeugt schon Wärme. Sind die Bürgerräte, für die Sie sich einsetzen, ein Heilmittel gegen die innere Abspaltung von der Gesellschaft?

Auf jeden Fall. Die Menschen lassen sich gerne auslosen und einladen, um für die Politik schwierige Fragen zu entscheiden und Empfehlungen abzugeben. Wir haben noch nicht erlebt, dass die 160 Ausgelosten, die volle Bandbreite der Gesellschaft, sich gegenseitig selektieren oder ausgrenzen. Alle (!) beginnen sofort mit der Arbeit, bringen sich ein, um das beste Ergebnis, mit dem alle mitgehen können, zu erarbeiten. Die Wahlpräferenzen der einzelnen Teilnehmenden spielen gar keine Rolle und Unsagbares wird auch nicht geäußert. Im Gegenteil, die Menschen gehen so respektvoll miteinander um, wenn sie erleben, dass sie gemeint sind und man sie ernst nimmt. Wir erleben immer wieder sehr berührende Momente. Auch die Politikerinnen oder Politiker, die zu Besuch kommen, sind immer wieder beeindruckt, wie konstruktiv und hilfreich die Ergebnisse in den Bürgerräten erarbeitet werden. Wir bräuchten diese Formate in Deutschland nur auf allen Ebenen, im Bund, im Land und im Dorf. Und zu guter Letzt auch in einem neuen Fernsehformat jenseits der üblichen Talkshows.

Wir haben mit Mehr Demokratie für den Bundestag den Prototypen Bürgerrat erarbeitet, jetzt wird er überall angewendet. Als Nächstes müssen wir ihn gesetzlich verankern und etablieren.

Gerne würde ich auch mit den Abgeordneten eines Parlaments einen Prototyp durchlaufen, wo eine externe Moderation alle Abgeordneten als eine Gruppe (jenseits von Parteizugehörigkeit und Fraktionszwang) durch einen Gesetzgebungsprozess führt, sodass alle Abgeordneten, egal aus welcher Partei, ihr ganzes Wissen einbringen können. Die Kompetenz der Menschen in den Parlamenten wird viel zu sehr für Konkurrenzkampf genutzt, statt für Zusammenarbeit und Kooperation.

Diesen Eindruck habe ich auch. Welches Erlebnis hat Sie am meisten verändert, seit Sie sich für direkte Demokratie einsetzen?

Als ich 2018 zu Wolfgang Schäuble, unserem damaligen Bundestagspräsidenten, ging und ihm die Idee der Bürgerräte nach irischem Vorbild vorschlug und er in seiner badischen Mundart antwortete: «Frau Nierth, probieren Sie’s aus, es schad’ nix, bäschtenfalls bringt’s was, meine Schirmherrschaft haben Sie!» Das war für mich ein Wendepunkt. Bis dahin galt: «Vergiss es, da geht nichts, die werden sich da oben nie ändern!» Das war der Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit. Leider lebt Schäuble nicht mehr, seine Unterstützung und Überzeugungskraft für Bürgerräte fehlt heute.

Wie kommen wir von einer resignierten Gesellschaft, in der der demokratische Wille bröckelt, zu einer kompetenten, vielseitigen und agilen ‹Demokratie der Zuneigung›?

Indem wir überall die Menschen an den wesentlichen Themen beteiligen. In den Städten und Gemeinden. Im Land und auf Bundesebene. Unsere Erfahrungen zeigen immer wieder: Wenn die Menschen gefragt werden, wenden sie sich nicht ab. Im Gegenteil, sie bringen sich konstruktiv ein. Keiner will nur am Spielfeldrand stehen und nur zusehen und kritisieren. Alle wollen helfen, dass das Spiel auf dem Feld gelingt.

Machen wir zum Abschluss ein kleines Spiel:

1. Als Eurythmistin würden Sie die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewegungen wie charakterisieren …? Jeder performt sich irgendwie gerade selbst. Interessanter wird’s, wenn wir alle in einem gemeinsamen Zusammenhang, in einem Beziehungsgeflecht untereinander gemeinsam performen. Vom Ich zum Wir zum Beispiel.

2. Als Omnibusfahrerin haben Sie von den Menschen gelernt …? Dass jeder es besser weiß und viel über andere redet, die sich verändern müssten, aber kaum einer davon spricht, wie er sich selbst ändern will, damit er jener Mensch wird, der in einer besseren Zukunft lebt.

3. Als Beziehungs- und Paarberaterin würden Sie sich und Ihren Mitmenschen raten …? Jeden Tag die innere Großzügigkeit ein bisschen weiten. Jeden Tag das Herz etwas größer werden lassen und die anderen nicht als Gegner, sondern als Unterstützung im großen Ganzen sehen. Und sich nie für den Bruch im Affekt (also im Trauma) entscheiden, sondern für den Wandel der Beziehungen. Beziehungen sind wie Wasser, sie wollen einfach nur fließen.

4. Als Sozialkünstlerin sehen Sie in der Zukunft …? Einen wunderschönen Sonnenstaat, so wie ihn Joseph Beuys immer wieder beschreibt und zeichnet. Ich sehne mich nach einem Liebesstaat, in dessen Mitte der beste Ratgeber für alle Probleme die Liebe ist: ‹Was würde die Liebe raten?› Sie kommen dann zu anderen Antworten. Wenn sich heute der Hass organisiert, dann müssen wir die Liebe organisieren.

Liebe Frau Nierth, ich danke Ihnen für Ihre Zeit!


Unsere Print-Ausgabe haben wir mit Bildern von Miriam Wahl gestaltet: Werkgruppe: ‹nomadic fragments›, Gouache/Öl auf Karton/Leinwand/Holz/Fundstücke, diverse Formate, 2024.
Miriam Wahl lebt und arbeitet in Marburg und Frankfurt am Main. Mehr: www.miriam-wahl.de
Fotos: Cover der Ausgabe Nr. 40 und Ausstellungsansicht Kunsthalle Kleinschönach.


Weiterführend
Claudine Nierths Bücher:
‹Die Demokratie braucht uns – Für eine Kultur des Miteinanders› mit Katharina Höftmann Ciobotaru, Goldmann, 2021.
‹Die zerrissene Gesellschaft – So überwinden wir gesellschaftliche Spaltung im neuen Krisenzeitalter› mit Roman Huber, Goldmann, 2023.

Podcast
Ausführlichere Gedanken zu diesem Thema finden Sie im Gespräch von Claudine Nierth und Matze Hielscher. Auf Youtube unter ‹Claudine Nierth – über Demokratie, Spaltung in uns, Volksabstimmung›, Kanal ‹Hotel Matze›.

Web Mehr Demokratie

Titelbild Claudine Niert; Foto: Sabine Braun

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