‹Urphänomen›: eine Online-Forschungsgruppe

‹Urphänomen› ist ein spirituell-wissenschaftlicher Online-Forschungszweig und eine Lesegruppe, die von Matthew D. Segall und Ashton K. Arnoldy vom California Institute of Integral Studies geleitet wird. Im letzten Herbst widmete sich die Gruppe dem Themenfeld der Kosmologie.


Jeder, der die gegenwärtige wissenschaftliche Kosmologie aufmerksam verfolgt, wird bemerkt haben, dass sie sich in einer Art von Paradigmenkrise befindet. Anomalien, die nicht in das Standardmodell des Urknalls passen, häufen sich, während das neue James-Webb-Weltraumteleskop unerwartete Daten aus den Weiten von Raum und Zeit zurücksendet.1 Obwohl die Naturwissenschaft im letzten Jahrhundert viele wichtige Fortschritte gemacht hat, stößt sie an möglicherweise selbst auferlegte methodische Grenzen. Diese Grenzen ergeben sich aus der Annahme, dass wir Menschen mit den Bewegungen des Himmels nur durch unsere Augen (einschließlich ihrer technischen Erweiterungen) und abstrakte geometrische Berechnungen verbunden sind.

In dem Bestreben, eine tiefere und konkretere Verbindung mit dem Kosmos zu kultivieren, veranstalteten wir eine Online-Lesegruppe 2, die sich auf Steiners Vortragszyklus ‹Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie› (GA 323) konzentrierte. Wir begannen im August 2023 und trafen uns jeden Dienstagmorgen (pazifische Zeit) bis zum 26. Dezember 2023. Diese Vorträge, die ursprünglich im Januar 1921 gehalten wurden, sind vielfältig und gehen weit über die Geschichte und Theorie der Astronomie hinaus, befassen sich mit Erkenntnistheorie, nicht euklidischer Geometrie, Physik, Embryologie, Morphologie und der Schulung der geistigen Wahrnehmungsorgane. Steiner fordert und veranschaulicht einen naturwissenschaftlichen Ansatz, der eine kontinuierliche Praxis der geistigen Bildung nicht nur zulässt, sondern voraussetzt. Auf diese Weise lädt er den spätmodernen Geist ein, zu einer Beziehung mit der Natur zurückzufinden, die es uns ermöglicht, unser eigenes Bewusstsein nicht als eine fremde, nicht in diese Welt passende Anomalie zu erleben, sondern als Ausdruck kosmischer Kräfte, die einer weiteren Kultivierung harren. Diese Kräfte zu spüren und mit den Weltrhythmen in uns selbst in Resonanz zu gehen, bedeutet zu lernen, bewusst zu tun, was einst für uns getan wurde während unserer Entwicklung im Mutterleib. Der gewaltige Chor wirbelnder Welten tut sich zusammen, um unsere Seelen in die Zeit und unsere Körper in den Raum hineinzuwinden. Nicht nur das Blut und die Gestaltung unserer menschlichen Eltern, sondern auch die Sonne, der Mond und die Geschwistersphären geben unseren Gliedern, unserer Brust und unserem Gesicht Form.

Steiner fordert nicht nur eine neue, imaginative Methode der Himmelsbeobachtung, sondern auch völlig neue metaphysische Dimensionen, die zum Beispiel die Verflechtung von scheinbar weit entfernten Disziplinen wie Astronomie und Embryologie erhellen könnten. Wir können uns nicht länger mit abstrakten Modellen und logischen Schlussfolgerungen zufriedengeben. Auch wenn es immer wieder neue Details zu entdecken geben wird, können wir unser Urteil über die Ursprünge der Schöpfung nicht weiter aufschieben, als ob ein etwas leistungsfähigeres Teleskop oder ein Teilchenbeschleuniger endlich die Wahrheit ans Licht bringen könnten. Vielmehr müssen wir, wie Steiner empfiehlt, die Phänomene intuitiv durchdringen, mit unserem eigenen leiblichen Leben und unseren gesunden Sinnen, verwurzelt in der sich drehenden Erde und mit unserer Vorstellungskraft, die verbunden ist mit den Bewegungen des Nachthimmels.

Dementsprechend ist Steiners Leitmotiv in den Astronomievorträgen die Notwendigkeit, die menschliche Gestalt wieder in den Organismus des Sonnensystems zu integrieren. Nach einer Reihe von Zahlen, Berechnungen und geometrischen Übungen erklärt er seinen Zuhörern, dass es sein zentrales Ziel war, in ihnen eine Erfahrung der Harmonie zwischen der menschlichen Organisation und der Dynamik des Kosmos hervorzurufen.3 Das ptolemäische Modell des Sonnensystems, so sagt er, fungierte als große Schule für den menschlichen Intellekt, indem es uns von unserer ursprünglichen, atavistischen Teilnahme an der kosmischen Weisheit befreite, um uns durch unsere eigene Denktätigkeit wieder frei mit ihr zu vereinen. Das kopernikanische Modell strebte diesen erneuten Kontakt mit der kosmischen Weisheit an, bleibt jedoch einer starren euklidischen Geometrie verhaftet, die nicht in der Lage ist, die wahren Bewegungen des Himmels zu erfassen. Diese Bewegungen können in ihrer lebendigen Realität mit keinem Rechenmodell, ob geo- oder heliozentrisch, vollständig erfasst werden. Steiner stimmt mit Kopernikus überein, dass sich die Erde bewegt, besteht aber darauf, dass ihre Bahn weder ein einfacher Kreis noch eine Ellipse ist. Dies seien bestenfalls niederdimensionale Projektionen ihrer wahren Bewegung, die Steiner schematisch nachzeichnet, wie in der Abbildung gezeigt (Siehe Link unter ‹Bilder zum Text›). Die Erde folgt der Sonne auf einer gewundenen, schraubenartigen Lemniskatenbahn.

Nach der großen Entwurzlung durch materialistische Denkweisen versuchte Steiner, das menschliche Wissen wieder in den kosmischen Prozess zu integrieren. Die Empfehlung, den Stoffwechselrhythmus zwischen der vertikalen Ausrichtung im Wachzustand und der horizontalen Ausrichtung im Schlaf zu berücksichtigen, veranschaulicht eindrucksvoll die Bedeutung dieses Rhythmus als absolutes Kriterium zur Definition der relativen Bewegungen, die von der Astronomie modelliert werden. Nicht nur unser Körper, sondern auch unsere sich verändernden Bewusstseinszustände sollen zu einem Mittel werden, mit dem wir eine genaue Wahrnehmung der tatsächlichen Bewegungen des Sonnensystems gewinnen – weit entfernt von der Vorstellung, ausgedehnte Körper zu messen, die sich einfach im leeren Raum befinden. Tatsächlich deuten Steiners Hinweise darauf hin, dass wir nur durch die Kultivierung tieferer Wahrnehmungsweisen, die solche Offenbarungen ermöglichen, beginnen werden, die Bedeutung der Äquivalenz von Masse und Energie sowie der Quanten-Nichtlokalität zu schätzen, die von den Physikern im letzten Jahrhundert entdeckt wurden.

Wie an anderer Stelle zieht Steiner eine Verbindung zwischen unserer Kulturepoche und der ägyptisch-chaldäischen (ca. 2900–747 v. Chr.) und deutet an, dass die damals instinktiv kultivierte Sternenweisheit heute im Wachbewusstsein erreicht werden muss, indem die moderne Wissenschaft durch spirituelle Entwicklung erweitert wird. Wie andere von Steiner neu gedachte Disziplinen wird auch die Astronomie als etwas dargestellt, das in der Zukunft allen – nicht nur Fachleuten – zugänglich sein könnte. Geometrische Übungen wie das Zeichnen von Cassini-Kurven sind nur ein Weg, durch den wir wieder Zugang zur Sphärenmusik erhalten können. Dies würde die Wiedervereinigung von Astronomie und Astrologie bedeuten – die äußere, physische und die innere ethische Hälfte eines einst ganzen, nun aber zerrissenen Bildes: eine lebendige, wache, imaginative Wahrnehmung des Sinns der Welt. Einer der faszinierendsten Hinweise, die Steiner gibt, ist, dass die Disziplin, die aus dieser Wiedervereinigung hervorgeht, einer neuen Sozialwissenschaft und damit einer neuen kosmopolitischen Religiosität dienen könnte: dem Potenzial, den sozialen Organismus mit dem Organismus des Himmels auf eine Weise in Einklang zu bringen, die die individuelle Freiheit bewahrt und gleichzeitig neue Möglichkeiten der öffentlichen Rituale schafft, die uns mit dem Mysterium des Kosmos wieder verbinden können.

Der Wert des gemeinsamen Studiums

Diese Lektüre war die dritte in einer Reihe solcher Gruppenarbeiten und Teil eines im Entstehen begriffenen internationalen spirituellen Forschungsnetzwerkes. Wir haben uns entschieden, dieses Netzwerk ‹Urphänomen› zu nennen, jenen mitreißenden Ausdruck, den Goethe geprägt hat, um die archetypische Dynamik zu bezeichnen, die sich in verschiedenen Manifestationen der Metamorphose offenbart (zum Beispiel in der Meteorologie, in den Farben, im Pflanzenwachstum, in der Entwicklung der Tiere usw.). Der Name bringt unsere Absicht zum Ausdruck, jeden Lesezyklus im Sinne einer umfassenderen interkulturellen und transdisziplinären Vision zu gestalten. Eine solche Herangehensweise ist ganz im Sinne der Anthroposophie. Wichtig ist jedoch, dass es sich dabei nicht um eine Vision handelt, die wir als vollständig oder eindeutig betrachten, denn eine weitere wichtige Absicht von uns ist, dass die Gruppe auf eine Art und Weise gefördert wird, die jedem erfolgreichen pädagogischen Unterfangen angemessen ist: durch die Betonung von Pluralismus, kritischem Dialog und interpretativer Großzügigkeit. Dementsprechend ist jeder – vom erfahrenen Anthroposophen bis zur überzeugten Materialistin – eingeladen, an unseren Treffen teilzunehmen.

Wir begannen unseren ersten Lesezyklus im Herbst 2022 mit Steiners ‹Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt› (GA 18). Als wir uns den zweiten Zyklus ‹Die Philosophie der Freiheit› (GA 4) vornahmen, hatte sich zwischen den engagierten Teilnehmenden bereits so etwas wie eine Gemeinschaft gebildet. Unser Format besteht aus einstündigen Videokonferenzen. In den ersten 15 Minuten geben wir oder Freiwillige aus der Gruppe eine Zusammenfassung des Gelesenen. Der Rest der Zeit ist dem offenen Dialog gewidmet. Immer wieder haben wir festgestellt, wie wertvoll es ist, wenn unterschiedliche Perspektiven und Hintergründe zusammenkommen, um einen Text zu betrachten. Auch wenn virtuelle Treffen ihre Grenzen haben, ist die internationale Zusammenarbeit, die dieses Format ermöglicht, eine Bereicherung. Auf Anregung eines Teilnehmers haben wir schließlich damit begonnen, unsere Treffen per Livestream auf Youtube zu übertragen, in der Hoffnung, die Diskussion noch weiter zu vertiefen.

Als sich durch regelmäßige und ernsthafte Teilnahme eine wirkliche Gemeinschaft gebildet hatte, begannen wir, ‹Pop-up-Vorträge› zu veranstalten, die von Freiwilligen aus der Gemeinschaft angeboten wurden, oder einmalige Treffen zu kontroversen Themen, einschließlich der Frage der Rasse in Steiners Werk. Diese Pop-ups finden bis 2024 weiterhin statt, ebenso wie ein vierter Lesezyklus, der sich auf Steiners ‹Die Geheimwissenschaft im Umriss› (GA 13) konzentriert.

Das Ziel von ‹Urphänomen› ist es, sich mit den Schlüsselwerken Steiners auseinanderzusetzen und seine Methoden in die Praxis umzusetzen, um eine neue Form der Teilhabe an einem neu belebten Kosmos zu kultivieren. Wir hoffen, dass Sie sich unserer Gemeinschaft anschließen oder eigene Gruppen gründen, denn nur durch die Pluralität der Perspektiven kann der Dialog gelingen.


Kontakt Jeder, der sich an unserer gemeinsamen Forschungsarbeit beteiligen möchte, kann sich per E-Mail an uns wenden urphanomen@outlook.com

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Titelbild Aus GA 323, 18. Vortrag (Fig. 5)

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Footnotes

  1. Adam Frank and Marcelo Gleiser, The Story of Our Universe May Be Starting to Unravel [Die Geschichte unseres Universums könnte sich zu entwirren beginnen], The New York Times, 2. September 2023.
  2. Alle Videos von ‹Urphänomen› sind hier zu finden.
  3. Rudolf Steiner, Interdisciplinary Astronomy: Third Scientific Course, CW 323, Lecture XVII. [Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie, GA 323, 18. Vortrag], SteinerBooks 2020.

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