Der Michaeli-Spatz

In einem Busch vor dem Haus saß ein Spatz. Er schien keine Angst vor uns zu haben. Ich rückte näher, um den kleinen, mutigen Vogel besser zu sehen.


Als ich meine Hand vorsichtig näherte, schien er interessiert zu sein. Ein paar Körner genügten, um ihn dazu zu bringen, auf die Hand zu hüpfen. Nachdem er gepickt hatte, interessierte er sich noch genauer für das aufrechte Wesen, das ‹Mensch› genannt wird und das ich selbst war. Seine Neugier ließ ihn auf meine Schulter springen.

Ich schlug dem gefiederten Kerl vor, mir in unser Haus zu folgen – aber nur wenn er wollte –, um einen großzügigeren Snack zu bekommen. Er blieb auf meiner Schulter und kehrte dann in meine Hand zurück. Er schien nicht abgeneigt von dieser nachbarschaftlichen Einladung. «Hauptsache», dachte ich, «er soll frei sein und tun können, was er will.» Aber ich wünschte mir natürlich trotzdem, dass er bei uns blieb. Und er blieb. Er pickte noch ein paar Körner auf und nahm einen tiefen Schluck aus einem kleinen Glas Wasser. Was für eine Freude! Aber wir müssen wieder an die Arbeit. Willst du bleiben? Willst du gehen? Er will offensichtlich bleiben …

Es ist schwer, auf der Computertastatur zu tippen, wenn ein Spatz kommt, um die Buchstaben zu erkunden. Sehr lustig, wenn er auf die Finger klettert, während man versucht, eine Nachricht auf dem Smartphone zu schreiben, und wenn er sich dann ganz oben auf das Gerät setzt, als wäre nichts geschehen … Die Freude, die der kleine Spatz in dieses kleine Haus brachte, war so groß – als wäre der ganze Himmel hereingekommen. Er blieb noch eine Weile. In einem Augenblick der Unachtsamkeit war er aber weg. Und das Haus war plötzlich so leer und so voll zugleich. Er kam nie wieder zurück.

Er war frei. Er blieb frei. War das nicht gerade das Geheimnis dieser Begegnung? – Und jetzt, da wir den Michaelitag feiern, denke ich wieder an den Vogel. Ich denke an den Drachen und ich denke an den Vogel. Und ich frage mich: Soll man den Drachen töten? Soll man ihn beherrschen? Soll man ihn zähmen oder einfach eine Beziehung mit ihm eingehen? Sind diese alten Bilder vom Kampf, um das Tier zu besiegen, nicht aus einer anderen Zeit? Vielleicht sind sie in Kindergeschichten immer noch sehr gut, aber für mich heute? Und wenn es darum ginge, den Drachen kennenzulernen und eine unvorhergesehene Freundschaft mit ihm zu schließen, sodass er von selbst den Platz findet, der ihm zusteht? Ich muss über diese Frage noch weiter meditieren …


Foto Xue Li

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