Andere und mich selbst heilen

Am 5. Oktober sprach Zacharie Dusingizimana auf der internationalen Tagung für inklusive soziale Entwicklung im Goetheanum. Er berichtet, wie der große Schmerz seine Heimat, Ruanda, bis heute prägt und wie wir durch die richtigen Fragen lernen, heilend zu wirken.


Im Kern der Arbeit von Rudolf Steiner steht die Frage der Freiheit: Wie werde ich ein freier Mensch, der aus seiner tiefsten Wahrheit lebt und handelt? Wie finde ich die Quelle für mein Tun in meinem innersten Wesen? Wie kann ich über Gedanken und Muster, die in meinen Körper, meine Gewohnheiten und die mich umgebende Gesellschaft eingeschrieben sind, hinauswachsen und mein wahres Selbst finden? Inklusive soziale Entwicklung meint genau das.

Ich komme aus Ruanda, im zentralen Ostafrika, und ich möchte hier einen Teil meiner Geschichte erzählen. Darüber, wie ich Mitbegründer und Direktor des Ubumwe Community Centers wurde und warum ich jetzt auf dieser Tagung bin, und wie ich als Mensch die Heilung von anderen und mir selbst ergründe.

Vor 30 Jahren war ich 17 Jahre alt und kam für die Osterferien aus dem Internat nach Hause. Ich hatte keine Ahnung, dass das der Anfang eines neuen Lebens, in einer neuen Welt und mit neuen Menschen sein würde. Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen. Mein Vater war Künstler, der Holzfiguren schnitzte, und meine Mutter war Hausfrau. Wir lebten ein friedliches Leben, stolz und dankbar für das, was wir hatten. Ich war eines von sechs Geschwistern, zwei Jungen und vier Mädchen. Zu der Zeit lebten drei von uns weit weg, während wir anderen zu Hause waren.

Am Morgen des 7. April 1994 hörten wir im Radio, dass der damalige Präsident von Ruanda getötet worden war – sein Flugzeug war während der Landung in der Hauptstadt Kigali abgeschossen worden. Es war nicht klar, was passierte, und wir konnten nur durch das Radio Neuigkeiten erfahren. Im Radio wurde nur die Mitteilung wiederholt, dass alle zu Hause bleiben sollten. Ich sah, wie sich unsere Eltern und Nachbarn in kleinen Gruppen sammelten, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was los war und was passieren würde. Einige Tage später brannten um uns die Häuser, in allen Nachbardörfern, und ich hörte das laute Geschrei der vielen Menschen, die umherrannten und ein Versteck suchten.

So begann der Völkermord an den Tutsi in meinem Dorf.

Die drei Monate, in denen der Völkermord tobte, waren, als ob man jeden Tag sterben und wieder lebendig werden würde. Das Land verlor eine Million Menschen in nur 100 Tagen. Danach waren wir alle auf unterschiedliche Art traumatisiert. Ich hatte Angst vor allen und allem. Ich konnte überall die toten Körper riechen. 1995 zog ich mit meiner Familie nach Nairobi in Kenia. Das fühlte sich sehr weit weg an, mit vielen unterschiedlichen Kulturen und Menschen. Ich habe fast fünf Jahre dort verbracht. Ich wollte mein Land vergessen und niemals zurückgehen. Ende 1999 kam eine meiner Schwestern, die in Ruanda geblieben war, zu Besuch. Ich absolvierte gerade die weiterführende Schule. Sie erzählte, dass sich vieles verändert habe, und lud mich zu einem Besuch ein. Als ich zu ihr fuhr, war natürlich nicht alles in Ordnung, aber wenigstens konnte ich Menschen zusammen sehen. Ich sah Schüler und Schülerinnen, die in die Schule gingen und auch sonst gingen die Menschen ihrem Alltag und ihrer Arbeit nach. Aber das Wichtigste war, es waren keine Schüsse und keine Hilferufe mehr zu hören. Während meines Besuchs fing ich an zu bereuen, dass ich weggegangen war, während andere geblieben und in die Armee eingetreten waren oder alle möglichen Arbeiten für die Gemeinschaft machten, um das Land nach dem Genozid wiederherzustellen. Ich fühlte eine Leere in mir, die ich füllen wollte.

Zacharie Dusingizimana (links) mit Hai Nguyen Phuoc aus Vietnam auf einem Podium der Tagung, Foto: Matthias Spalinger

Die entscheidende Frage

Ich war in Gisenyi, einer Stadt am nördlichen Ufer des Sees Kivu, das vor einer Kulisse aus Vulkanbergen gleich an der Grenze zum Kongo liegt. Ich lief am See entlang und kam an ein paar Leuten aus den USA vorbei. Unerwartet drehte sich eine Frau aus der Gruppe zu mir und fragte: «Wer bist du?» Ich war überrascht und verwirrt und sagte: «Mir geht’s gut.» Aber sie fragte wieder und ich verstand nun die Frage: «Wer bin ich?»

Die Gruppe war gekommen, um eines der Waisenhäuser außerhalb von Gisenyi, Imbabazi, zu unterstützen, das von einer amerikanischen Frau nach dem Genozid gegründet worden war. Als sie mir von ihrer Arbeit erzählten, fragte ich sie, ob ich sie am nächsten Tag als Freiwilliger besuchen dürfte. Als ich die sehr jungen Kinder – zwischen 2 und 15 Jahren – im Waisenhaus traf, konnte ich nicht aufhören, mir vorzustellen, was mit ihren Familien geschehen sein musste und was sie während des Genozids erlebt haben mussten. Ich fühlte, dass das Waisenhaus der richtige Ort für mich war, um einen Beitrag zu leisten, und ich fühlte mich allmählich als ihr großer Bruder. Ich entschied, vorerst in Gisenyi zu bleiben, um mit ihnen zu arbeiten, und 2003 zog ich schließlich ins Waisenhaus, um bei ihnen zu bleiben.

Die Frage, die mir am Ufer des Sees Kivu vor 24 Jahren gestellt worden war, lautete: «Wer bist du?» Ich frage mich das immer noch: «Wer bin ich?» Was habe ich zu tun und warum feiere ich jetzt hier 100 Jahre inklusive soziale Entwicklung? Es ist die Gelegenheit, um die Frage weiterzugeben: «Wer bist du?» Und warum bist du hier 100 Jahre nach dem ersten Impuls? Was hast du getan und tust du, um hier zu sein?

Mit der Zeit erzählten mir die Waisenkinder, während sie im Heilungsprozess und in verschiedenen Familiensuchprogrammen waren, was mit ihren Familien und ihnen geschehen war. Viele von ihnen konnten mit ihren Familien oder Verwandten wieder vereint werden und die anderen erhielten auf anderen Wegen Fürsorge und Bildung. Heute sind sie alle erwachsen und haben häufig selbst Familie.

Eine besondere Person, die ich an meinem ersten Tag im Waisenhaus traf, war Frederick. Dieser Junge hatte 1998 in einer Attacke beide Hände verloren, als einige der Täter des Völkermords versuchten, in das Land zurückzukehren, um zu Ende zu bringen, was sie 1994 begonnen hatten. Durch Frederick kam die Inspiration, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen. Jedes Mal, wenn wir in die Stadt kamen, sahen wir zahlreiche Personen mit Einschränkungen. Viele von ihnen hatten den Völkermord überlebt und lebten in sehr verwundbaren Verhältnissen auf den Straßen.

2005 gründeten wir das Ubumwe Community Center (UCC), um Menschen mit Behinderungen wie Frederick zu unterstützen. Wir begannen in einem kleinen Raum, der uns von einer Kirche im Ort bereitgestellt wurde. Wir luden Menschen ein und weil Frederick auch eine Behinderung hatte, vertrauten sie uns und kamen. Am Anfang wussten wir noch nicht, was wir tun sollten, aber wir konnten beide lesen und schreiben, was viele von ihnen nicht konnten. So boten wir Alphabetisierungskurse an. Als wir einmal begonnen hatten, wurde Stück für Stück klar, was die wirklichen Bedürfnisse waren. Durch die Zeit entwickelten wir das Programm, das jetzt UCC ist, um auf diese Bedürfnisse zu antworten. Im Prozess entdeckten und lernten wir, wie wir das tun konnten.

In den Schuhen des anderen gehen lernen

Das Waisenhaus wurde 2012 geschlossen und doch treffen wir uns alle noch einmal pro Jahr, um der Frau, die es gegründet hat, zu gedenken. Nach meiner Zeit dort arbeitete ich weiter an der Mission des UCC. Auf dieser Konferenz hier im Goetheanum treffen wir uns alle. Der inklusive Geist von Rudolf Steiner hat uns um die ganze Welt gejagt, damit wir uns finden, und er versucht, uns zusammenzubringen, weil wir eins sind. Ich möchte darum noch eine Geschichte teilen.

Vor einigen Jahren betrat eine Frau mein Büro, gefolgt von einem freundlich aussehenden Jungen. Ich hatte sie noch nicht getroffen, aber ihn erkannte ich wieder, weil er seit einiger Zeit Teil unserer Gemeinschaft war. Ich bot ihnen zwei Stühle an, aber bevor mich die Frau überhaupt begrüßte, fragte sie mich: «Wo würde mein Sohn bleiben, wenn ich sterbe?» Ich war vollkommen überrascht. Weil ich nicht genau wusste, wo genau uns das hinführen würde, versicherte ich ihr, dass niemand sterben würde. Sie hielt inne und wir sahen uns eine Weile an. Dann begann sie mir ihre Geschichte und die ihres Sohnes zu erzählen.

Die Mutter hatte den Völkermord an den Tutsi überlebt. Ich saß ihr gegenüber, als sie mir erzählte, wie sie überlebt hatte, wie sie gesehen hatte, wie ihr Mann und ihre drei Kinder vor ihren Augen umgebracht wurden und wie ihre ganze, mehr als 15-köpfige Familie getötet wurde. Sie war die Einzige, die überlebte. Nach dem Völkermord hatte sie am ganzen Körper Narben; sie war traumatisiert wie viele andere. Neu anzufangen, war schwer, sie war körperlich und emotional verwundet. Nach einigen Jahren entschloss sie sich, wieder zu heiraten, damit sie eine neue Familie haben konnte. Ihr Erstgeborener war dieser Junge mit Downsyndrom, der jetzt mit ihr in meinem Büro saß. So erlebte sie von Neuem die Stigmatisierung und Ausgrenzung aus der Gemeinschaft. Einige nahe Freundinnen rieten ihr, das Kind loszuwerden. Sie wurden so marginalisiert, dass ihr neuer Mann schließlich beide verließ. Nur sie und der Junge blieben zurück. Aber die Mutter gab nicht auf, denn sie liebte ihren Sohn wirklich. Sie tat, was sie konnte, um ihn aufzuziehen, bis er 16 Jahre alt war. Dann verkaufte sie einen Teil ihres Landes, um in die Nähe unserer Gemeinschaft zu ziehen. Sie wollte, dass ihr Sohn bei uns unterrichtet wurde, da andere Schulen ihn ablehnten. So kam es, dass er bei uns das förderpädagogische Programm besuchte. Als er zu uns kam, sprach er nicht. Mittlerweile redet er ein wenig und es scheint ihm mit den anderen gut zu gehen.

Und nun war sie zu mir gekommen, um mich zu fragen, wo ihr Sohn bleiben würde, wenn sie stirbt. – Was hat sie zu dieser Frage gebracht?

Das Geld, das sie für ihr Land erhalten hatte, war aufgebraucht. Sie hatte davon die Miete bezahlt. Jetzt konnte sie sie kaum noch aufbringen und sogar Geld für das tägliche Essen war knapp. Also hatte sie entschieden, sich zusammen mit dem Jungen zu töten. Sie hatte den Plan gefasst, zu einem der größten Flüsse in Ruanda zu gehen, dem Fluss Akagera, der die Quelle des Nils ist. Sie wollte nicht, dass man ihre Leichen finden würde. Sie nahm deshalb den Jungen im Bus mit zum Fluss, der ihre Leichen weit wegtragen sollte. Als sie dort ankamen, sagte sie ihrem Sohn, dass sie nur zum Wasser gingen, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Aber der Junge weigerte sich zu laufen. Sie verbrachte Stunden dort und schaffte es nicht, ihn zu überzeugen, mit ihr ans Wasser zu gehen. Er bewegte sich nicht. Sie wurden von einem Verkehrspolizisten an der Hauptstraße beobachtet und schließlich, als es dunkel wurde, fragte er, was sie dort machten. Die Mutter erfand eine Ausrede und sagte, sie hätten kein Geld, um mit dem Bus nach Hause zu fahren. Der Polizist gab ihnen das Geld und half ihnen, den Bus zurück zu finden.

Zwei Tage nach diesem dunklen Moment kamen sie zu mir ins Büro mit der Frage: «Wo würde mein Sohn bleiben, wenn ich sterbe?» Bevor ich ihr antwortete, fragte ich mich: «Wer bin ich? Wer bin ich, um so eine Frage zu beantworten?» Doch ohne zu zögern, versicherte ich der Frau, dass sie nicht sterben würde und dass, wenn ihr etwas (anderes als ein Selbstmord) geschehen würde, ihr Sohn bei uns einen Platz hätte. Da fing sie zu weinen an. Ich war verwirrt und wusste nicht, wie ich das verstehen sollte, aber ich blieb ruhig und wartete ab. Als sie sich wieder gefasst hatte, erklärte sie mir, dass sie so erleichtert und glücklich sei, das zu hören. Dass sie in fast 26 Jahren des Leidens nicht so glücklich gewesen sei. «Wer bin ich?» Wer bin ich, der diese Antwort gegeben hat?

Gerade versuchen wir, sie zu unterstützen, damit sie und ihr Sohn sicher sind. Rudolf Steiner hat davon gesprochen, wie wir unseren Weg zueinander finden, wenn wir das Geistige mit einem gemeinsamen Ziel suchen. Er hat auch betont, wie wichtig es sei, lebenslang zu lernen.

Mein Leben nach dem Völkermord und meine Erfahrungen im Waisenhaus haben mich zu dem geformt, der ich heute bin, in einem fortschreitenden Prozess der Heilung von mir selbst, während ich andere heilte, die niemanden sonst dazu haben. Diese Frau zu treffen und mir ihre 26-jährige Leidensgeschichte anzuhören, hat mich all meine Sorgen und Herausforderungen vergessen lassen, denn sie scheinen unbedeutend neben den ihren. Sie hat in stiller Weise zu meiner Heilung beigetragen, als sie jemanden suchte, der sie unterstützt und heilt. Indem ich sie traf, fand ich die Entschlossenheit, mich nie mehr zu beschweren und nur noch positiv zu handeln. Ich lernte auch, dass es eine der wichtigsten pädagogischen Methoden in unserer Arbeit ist, zuzuhören und nochmal zuzuhören. Wenn wir das tun, verstehen wir; wir vergessen uns und treten in die Schuhe des anderen, der unsere Hilfe sucht. Dabei lernen wir zu lernen, unser ganzes Leben lang.

Das ist, wer ich heute bin. Und wer bist du?


Übersetzung aus dem Englischen: Franka Henn

Bilder Eindrücke aus dem Ubumwe Community Center in Gisenyi, Ruanda

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