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Atemwende

Die Coronapandemie fordert im tieferen Sinn, auf den Atem zu achten. Denn im Atem liegt, was wir empfinden, wie wir mit anderen und mit den Tieren zusammen leben, wie wir die Atmosphäre mit unseren Worten prägen.


Es ist ein seit Längerem kursierendes Gerücht, dass das SARS-CoV-2-Virus ein freigesetztes Laborvirus aus dem Hochsicherheitslabor des Instituts für Virologie Wuhan sei (wo in der Tat an Coronaviren aus Fledermäusen geforscht wird). Die Leiterin dieses Labors, Shi Zhengli, ist selbst diesem Gerücht nachgegangen. US-Außenminister Mike Pompeo vertritt die These öffentlich, ohne Belege vorzulegen. Dazu ist ein lesenswerter Artikel in der ‹Zeit› vom 7. Mai 2020 (1) erschienen. Er berichtet von mindestens vier Vorfällen in Singapur, Taiwan und China in den Jahren 2003 und 2004, wo sich Menschen wegen Laborzwischenfällen mit SARS infizierten. Er kommt zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Unfall oder gar bewussten Vorgang im Falle von SARS-CoV-2 bezüglich des Labors in Wuhan sehr gering sei. Die ‹Five Eyes› – Geheimdienste der USA, Großbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands – haben «nichts vorliegen, was darauf hinweist, dass das die wahrscheinliche Quelle war», so der australische Premierminister Scott Morrison, keineswegs ein enger Freund der Volksrepublik China, gegenüber der Presse. Die im ‹Goetheanum› (2) schon zitierte Arbeit in ‹Nature› weist meines Erachtens eher in Richtung ‹wet markets›. Diese wurden übrigens bereits in der Bundestagsdrucksache 2012 als möglicher Ausgangspunkt einer Pandemie angenommen. (3) Unter den früh infizierten Bewohnerinnen und Bewohnern Wuhans hatten zwei Drittel direkten Kontakt zu dem Markt, in dem mehr als 600 Händlerinnen und Händler aktiv waren.

Was wissen wir derzeit über den Ursprung von SARS-CoV-2?

1. Derzeit kann niemand mit Sicherheit sagen, wo es zum Übergang des Virus auf den Menschen gekommen ist. Die Pandemie selbst nahm ihren Ausgang sehr wahrscheinlich von dem ‹wet market› in Wuhan, was nicht automatisch bedeutet, dass der Übergang dort erfolgte.

2. Es ist relativ sicher, dass neben der Fledermaus als ‹Spender› ein Zwischenwirt, wahrscheinlich das Pangolin, im Spiel war, das in China als Delikatesse verzehrt wird. Eine andere Spur führt zu den Marderhunden in ‹Pelzfarmen› und ihren unbeschreiblichen Lebensumständen. (4)

3. Sehr wahrscheinlich sind menschliche Umwelteinflüsse dafür verantwortlich, dass es zu der verhängnisvollen, massiven Virusfreisetzung und dem Virusübergang auf den Menschen gekommen ist – einem Übergang, der so nur unter außerordentlichen (Stress-)Belastungen und abnormer Nähe von Wildtier und Mensch zustande kommt, wie sie z. B. auf diesem ‹wet market› herrschten.

4. Es gibt keinen Beleg dafür, dass das nahe des ‹wet market› gelegene Hochsicherheitslabor oder ein nur 300 Meter vom Markt entfernt gelegenes Institut für Seuchenbekämpfung, in dem ebenfalls virenbefallene Fledermäuse untersucht werden, aktiv in die Genese der SARS-CoV-2-Epidemie verwickelt sind.

5. Es ist andererseits geschichtlich symptomatologisch interessant, dass eine Welt der naturwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung, die zur Förderung der öffentlichen Gesundheit und Pandemieprävention Institute gründete, um an Coronaviren aus Fledermäusen zu forschen, sich in solcher Nähe zur möglichen Brutstätte, zumindest sehr sicher zum epidemiologischen Ausgangspunkt der Pandemie befindet.

6. Die Statements der US-Regierung sind vor diesem Hintergrund unverantwortlich und setzen wahrscheinlich die Lügen von 2003 vor dem Irakkrieg, aber auch schon von 1953 fort. (5) Das Beispiel Iran-Irak zeigt deutlich, wie vorsichtig mit solchen Erklärungen einer Weltmacht – heute gegenüber China – umgegangen werden muss. Das ist im Falle einer Pandemie, die ein gemeinsames Handeln der Weltgemeinschaft fordert, keine Petitesse.

7. Dass China inzwischen fünf US-Soldaten, die wahrscheinlich an Malaria litten, beschuldigt, das Virus eingeschleppt zu haben, ist ähnlich absurd. Dass wir dadurch aber darauf aufmerksam werden, dass Wuhan im Oktober 2019 auch Austragungsort der World Military Games war, verdichtet noch mehr die geschichtliche Symptomatologie an diesem Ort im Sinne Rudolf Steiners. (6)

Man mag hinzufügen, was im Artikel im ‹Goetheanum› (7) zum Thema globale Vernetzung zu Wuhan angedeutet ist, und man versteht immer mehr, dass hier geistig-seelisch-ökologisch-physisch ein Ort bereitet ist, der einen solchen Übergang des Virus vom Tier zum Menschen erleichtert.

Das heilende Gegenbild ist michaelisch: die Verwandlung unseres Denkens in ein Herzdenken, der michaelische Gebrauch des Eisens im inspirierten Willen gegenüber den Kräften des Drachens (eines Tierwesens, das in China außerordentlich präsent ist). Das Beachten des Atems. Zur ‹Welt vor Corona› gehört der Aufstieg Chinas zur Weltmacht, gehören die atemlosen Verhältnisse der Gegenwart: physisch in der Umweltverschmutzung, zeitlich in der Beschleunigung des Lebens, seelisch in der Missachtung von Empfindung und Schmerz des anderen, geistig in der völligen Trennung vom kosmisch-geistigen Ursprung der Erde und des Menschen. Diese atemlose Welt, ‹the city that never sleeps›, hat ihr zerstörerisches Potenzial in dieser Pandemie gezeigt. Jetzt sollen wir alle mit Masken herumlaufen wie schon zuvor die Bevölkerung chinesischer Metropolen im winterlichen Smog. Viele fürchten derzeit in der Ausatmung des anderen den Anfang des eigenen Endes. Wir werden uns bewusst, wie wir in der Luft in Form feiner Tröpfchen vom wässrigen Element umgeben sind und bei jeder Versammlung nicht nur die Luft des und der anderen einatmen, sondern auch ein gemeinsames Aerosol bilden. Die Frage ist, ob wir nun nur auf den virologischen oder auch auf den moralischen Aspekt dieses Aerosols achten, das maßgeblich durch unser Sprechen geprägt wird. Für Lügen gibt es zum Teil viel höhere Reproduktionszahlen als für Viren.

Positiv gesprochen: Wir brauchen Wahrheit in unserer Sprache. Achtsamkeit für alle Atmungsverhältnisse. Null Toleranz für eine Umweltgestaltung, die uns und unseren beseelten Mitbewohnern auf diesem Planeten den Atem raubt. Die ökologische Wende ist eine Zeitenwende auch im Umgang mit der Zeit und sie hat die Dimension einer Atemwende. Lasst uns an einer Welt bauen, die sensibel ist für alle atmenden Wesen und fühlen lernt, was uns der Atem des anderen sagt. Atmest du? Wie atmest du? Eine zentrale Frage für jeden Arzt, für jeden Menschen. Noch ehe wir sprechen. Es geht um die Zuwendung zum Atem des anderen, eine Zuwendung, die zu einer neuen Atmosphäre unserer Welt führen kann. Die alle atmenden Wesen einschließt.

Vor einem halben Jahrhundert hieß es in der Zeitschrift ‹Die Zeit› (47/1967) in einer Rezension des Gedichtbandes ‹Atemwende› von Paul Celan:

«Nicht recht beantwortbar scheint die Frage, warum Paul Celan seinen sechsten Gedichtband ‹Atemwende› genannt hat. Vielleicht, dass manche Gedichte irgendwie offener sind, manche Wörter weniger von Pathos befrachtet, als dies noch in der ‹Niemandsrose› der Fall war. Vielleicht auch, weil im Durchschreiten eines Engpasses da und dort die Ahnung von Licht und Rettung aufleuchtet; eine leise Frage sich vorwagt, auf die es zwar keine Antwort gibt, aber auch keine Verzweiflung – etwa in den Versen:

Deine Frage – deine Antwort, / Dein Gesang, was weiß er?»


(1) ‹Wo alles begann›, in: ‹Die Zeit›, Schweizer Ausgabe vom 7. Mai 2020, S. 6.

(2) ‹Wie leben wir zusammen?›, in: ‹Goetheanum› Nr. 14/2020.

(3) Bundestagsdrucksache 17/12051, S. 60: «Der Erreger stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde.» In diesem fiktionalen Szenario, das erstaunlich präzise die aktuelle Pandemie vorhersagte, wurde ein modifiziertes Coronavirus ähnlich dem SARS-1-Erreger als Auslöser angenommen.

(4) Alleine in China werden mehr als 50 Mio. Pelztiere jährlich auf ‹Pelzfarmen› gezüchtet und getötet.

(5) 1953 erfolgte ein von den USA und Großbritannien initiierter Putsch gegen die iranische Demokratie nach dem parlamentarischen Mehrheitsbeschluss des Irans zur Verstaatlichung der Ölindustrie. – 2013 wurden in den USA die Archive geöffnet, die die Beteiligung der CIA an dieser «Operation Ajax» und damit den historischen Ursprung diktatorischer Regimes im Iran belegen.

(6) Rudolf Steiner, Geschichtliche Symptomatologie. GA 185

(7) Siehe Anmerkung 2.

Titelbild: Vince Fleming/Unsplash

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