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Es geht um den werdenden, den großen Menschen

Vor 100 Jahren eröffnete in Stuttgart die erste Waldorfschule. Nun arbeiten 1180 Waldorfschulen weltweit. Warum war und ist Waldorfschule so erfolgreich. Ein Gespräch mit den Sektionsver­antwortlichen Claus-Peter Röh und Florian Osswald. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Wo ist euch Waldorfschule erstmals begegnet?

Florian Osswald Aberdeen, Camphillschule. Es war der Blick der Lehrerin. Sie hat nicht auf die Kinder mit ihren auch schweren Behinderungen geschaut, sondern ‹durch›-geschaut. Das hat mich sehr berührt. Ich spürte, was sie sieht, ist ein Mensch mit einer Behinderung und nicht ‹eine› Behinderung. Wie kann man so anders schauen, Menschen so anders sehen? Das hat mich neugierig gemacht.In ihrem Blick sah ich auch, dass die Kinder für sie ein Rätsel waren. Das hat mich auch deshalb so berührt, weil ich selbst in meiner Schulzeit oft nur ‹der› mit den drei älteren Brüdern war.

Claus-Peter Röh Da gäbe es in Rensburg eine große Waldorfschule, das hörte ich in meinem Pädagogikstudium. Also besuchte ich die Schule für einen Tag und erwischte dabei direkt eine Monatsfeier. Ein Gewusel aller Altersstufen im Saal, das war schon einmal neu. Sobald eine Klasse auf der Bühne mit ihrer Vorführung begann, das konnte die 5. mit ihrem Hexameter oder die 12. Klasse mit einer Rezitation moderner Lyrik sein, verebbte diese brodelnde Unruhe im Saal. Da war ein Atem, eine Stille im Raum, als die Schüler sich zu zeigen begannen. So etwas hatte ich nie zuvor erlebt. Da verstand ich auch die Geduld der Kollegen mit dem Rascheln und Tuscheln, denn sie konnten darauf vertrauen, dass alle Aufmerksamkeit da ist, wenn das Eigentliche beginnt.

Mit nichts ist die Anthroposophie so in die Welt getreten wie mit der Waldorfpädagogik. Warum?

Osswald Wir haben mit der Waldorfpädagogik ein Privileg: Rudolf Steiner hat diese Pädagogik entworfen. Es gibt Hunderte Entwürfe für Schulen. Aber Rudolf Steiner war dann über fünf Jahr Schulleiter und hat gemerkt, wie es geht und wie es nicht geht. Wir sind Christoph Wiechert unglaublich dankbar, dass er die Schulkonferenzen dieser Jahre jetzt neu herausgegeben hat. Wir können uns jetzt gut ein Bild davon machen, wie die Idee in die Wirklichkeit gekommen ist und lebendig wurde. Anthroposophie bedeutet, dass etwas Geistiges konkret wird, sonst ist sie gar nicht. In der Waldorfpädagogik konnte Rudolf Steiner diesen Weg gehen. Außerdem hat die ganze Anthroposophie mit dem werdenden Menschen zu tun. Da sind wir mit den Schulen in einer Schlüsselstellung.

Röh Lernen bedeutet, dass etwas hereingerufen wird, das noch nicht da und doch möglich ist. Lernen bedeutet, zu fühlen, welche Fragen und Ziele die Kinder mit in ihr Leben bringen. Auch die Eltern spüren, nachdem sie das Rätsel der Geburt erlebt haben, dass in ihrem kleinen Kind etwas anwesend ist, was weit in die Zukunft ragt, etwas, was sich einschreiben will, und dann fragen sie, wo das weiter gedeihen kann. Natürlich ist in allem etwas Geistiges, aber im Kind ist es uns doch näher, greifbarer.

In den 1180 Waldorfschulen arbeiten ja so viele Lehrerinnen und Lehrer. Zu dieser Arbeit gehört, dass du jeden Tag, ja jede Schulstunde erlebst, dass du dich mit den Kindern etwas ändern willst. Es ist ein Sog aus der Zukunft, ein Sog einer Verwandlung.

Wie geht es der Waldorfbewegung und was sollte man ihr wünschen?

Röh Im Gedicht von Goethe heißt es: «Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,/Die Sonne stand zum Gruße der Planeten» – und dann am Ende: «Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt». – Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Das kann man auf jeden einzelnen Menschen beziehen, aber auch auf die Waldorfpädagogik. Eine Schulgründung bedeutet oft, jahrelang zu ringen, bis Eltern, Lehrer, Schüler und ein Gebäude so zusammenklingen, dass sich ein Schulwesen senken kann. Es ist in keiner Schule immer anwesend. Sobald ein Unterricht oder sogar eine ganze Schule zu sehr in Formen und Bahnen gerinnt, droht das Wesen sich zu lösen.Davon hängt so viel ab, dass es gelingt, die Schule, den Unterricht, die einzelne Begegnung immer wieder neu zu entwickeln. Da kann sich das Wesen verbinden, habe ich den Eindruck,und das ist deshalb jeder Schule zu wünschen.

“Je mehr nun Maschinen in die Schulen vordringen, desto deutlicher werden wir sehen, was uns Menschen ausmacht und was der Wert der menschlichen Begegnung ist. Das Ich bildet sich am anderen Ich.”

Osswald Wir fragen uns heute, was Schule eigentlich ist und zukünftig werden kann. Auf jeden Fall ist es ein Ort der Begegnung, wo es aus der Begegnung möglich wird, ein freier Mensch zu werden. Wie dieser Ort ist und sein kann, das ist selbst immer mehr eine Frage des Gesprächs und des Miteinanders. Je mehr nun Maschinen in die Schulen vordringen, desto deutlicher werden wir sehen, was uns Menschen ausmacht und was der Wert der menschlichen Begegnung ist. Das Ich bildet sich am anderen Ich. Dieser Kerngedanke Rudolf Steiners und der Waldorfpädagogik wird in einer digitalen Kultur zentral. Außerdem wünsche ich der Schulbewegung, dass wir die ‹anderen› einbeziehen. Dass wir uns öffnen aus dem Gefühl, einen Beitrag zu leisten für alle, und alle einladen, uns dabei zu helfen. Dass wir schöne Schulen haben, ist nicht das Wichtigste. Die Waldorfschulen sind dann schön, wenn sie für andere ein Ort der Begegnung werden, wo wir gemeinsam entdecken und ringen können, wie Schule der Zukunft gehen kann. Den Boden bildet dabei der Lehrerkurs vor 100 Jahren. Er ist ein Beispiel dafür, wie es gelingen kann, den großen Menschen in sich zu schaffen. Es gibt den Menschen, der in den Leib gefahren ist, und es gibt den kosmischen, den großen Menschen. Dass wir dieses Verständnis des großen Menschen immer klarer gewinnen und dieses Wissen dann in den Unterricht gießen, das wünsche ich uns.


Bild: Claus-Peter Röh und Florian Osswald, Foto: Xue Li

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