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Hilma af Klint: eine Entdeckung

Vom 10. November 2018 bis zum 1. März 2019 fand im Kunstraum Bogenhausen in München eine Hommage zeitgenössischer Künstler (Jan Albers, Angelika Bartholl, Hansjoerg Dobliar, Bernd Ribbeck, Claudia Wieser) für Hilma af Klint statt. Im Mittelpunkt der Ausstellung standen das bislang verschollene Notizbuch ‹Blumen, Moose, Flechten› (1919) sowie acht Originale aus der Werkserie ‹Baum der Erkenntnis› (1913–1915). (1)


Hilma af Klint hatte die Absicht, ihre Arbeiten im Goetheanum zu zeigen. Ihr Brief an Rudolf Steiner (1862–1925) von 1924 blieb jedoch ohne Antwort. Auch Albert Steffen (1884–1965), der erste Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft nach Steiners Tod, antwortete ihr nicht. (2) Das Notizbuch und die Bilder, die Hilma af Klint ihm zur Ansicht übergab, verschwanden im Archiv. So wurden erst kürzlich die von ihr angefertigte Originalkopie des Notizbuches ‹Blumen, Moose, Flechten› und die Bilderserie ‹Baum der Erkenntnis› in Dornach entdeckt.

Betrachtet man das abstrakte Œuvre der Künstlerin, von ihren Anfängen als Medium bis zu der mit vollem Bewusstsein ausgeführten Bilderserie, dann wird deutlich, dass ihr Weg von außen nach innen geht. Dazwischen – im Zeichen des Heiligen Grals – macht sich der für sie richtunggebende Einschlag der Rosenkreuzer bemerkbar, der in das Jahr 1907 zurückführt. (3)

Anzeichen einer Krise innerhalb der anglo-indischen Theosophie waren seit dem Münchner Kongress von Pfingsten 1907 bemerkbar, wo sich die Wege Annie Besants und Rudolf Steiners trennten. (4)

Durch die Krishnamurti-Affäre fand der Konflikt für Rudolf Steiner eine unerträgliche Steigerung, bis schließlich seine Mitarbeiterin Mathilde Scholl die Initiative ergriff, auf die er schon lange gewartet hatte. (5) Ihrem Aufruf zur Trennung von der Theosophischen Gesellschaft war auch Oberleutnant Gustav Kinell, Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in Skandinavien, gefolgt. Am 26. Februar 1913 reichte er von Stockholm aus ein Schreiben mit der Austrittserklärung von Mitgliedern der Skandinavischen Sektion nach Adyar ein. (6) Hilma af Klints Bilderserie ‹Baum der Erkenntnis› scheint mit diesem Ereignis in einem Zusammenhang zu stehen. Studiert man die Vorträge, die Rudolf Steiner zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft im Dezember 1912 in Köln gehalten hat, dann erkennt man den thematischen Zusammenhang.(7) Hilma af Klint, die als Schwedin aus Stockholm mit der deutschen Sprache vertraut war, muss den Inhalt dieser 1913 in Berlin veröffentlichten Vorträge gekannt haben.

Rudolf Steiner schildert darin aus der indischen Perspektive ein zentrales Ereignis des Sündenfalls. Dort heißt es: «Sie brauchen sich ja nur vorzustellen, dass man es, bevor innerhalb der Menschheitsentwicklung ein physischer Mensch entstand, zu tun hat mit einer Seele, die sich dann in zwei teilt. Der eine Teil, der eine Nachkomme der gemeinsamen Seele, verkörpert sich in Adam und dadurch geht diese Seele in die Inkarnation hinein, unterliegt dem Luzifer und so weiter. Für die andere Seele, gleichsam für die Schwesterseele, wird von der weisen Weltenregierung vorausgesehen, dass es nicht gut ist, wenn sie sich auch verkörpert. Sie wird zurückbehalten in der seelischen Welt; sie lebt also nicht in den Menschheitsinkarnationen, sondern wird zurückbehalten. Mit ihr verkehren nur die Eingeweihten in den Mysterien.» (8)

Es handelt sich bei dem engelhaften Wesen, das in den Mysterien die Verbindung der Eingeweihten mit den Göttern bewirkt, um den Krishna, der als nathanische Jesusseele in einem besonderen Verhältnis zu dem Ich des Täufers steht. «Das Ich, das im Grunde genommen dem Jesus des Lukasevangeliums vorenthalten wird, das wird dem Körper des Johannes des Täufers beschert, und dieses beides, was als Seelenwesen lebt im Jesus des Lukasevangeliums, und was als Ich im Täufer Johannes lebt, das steht von Anfang an in einer innerlichen Beziehung. […] Bei dem Johannes haben wir es mit einem Ich zu tun, das in Zusammenhang steht mit der Seelenwesenheit des nathanischen Jesus.» (9) Die nathanische Jesusseele und das Johannes-Ich sind der vom Sündenfall zurückbehaltene Adam Kadmon, dem in der mythologischen Bildersprache der Bibel der ‹Baum der Erkenntnis› entspricht. Von ihm geht die Gralsströmung (nathanische Jesusseele) und die Rosenkreuzerströmung (Johannes-Ich) aus, die für Hilma af Klints Evolutionsverständnis und ihre Kunst von zentraler Bedeutung sind.

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Anthroposophie soll diese Geistesströmung aus dem Grunde sein, weil durch sie immer mehr und mehr erkannt werden soll, wie der Mensch in sich zur Selbsterkenntnis kommen kann.

In ihrem Notizbuch ‹Blumen, Moose, Flechten› heißt es: «Vergiss nicht paradiesische Unschuld.» (10) Das Notizbuch, eine Art Tagebuch mit farbigen Diagrammen, das seine Entstehung der Sehnsucht verdankt, den Sündenfall durch die Selbsterkenntnis zu überwinden, enthält ‹Richtlinien› für die seelische Entwicklung. Im rosenkreuzerischen Sinne handelt es sich um eine Anleitung zur Ausbildung der imaginativen ‹Richtkraft›. Dazu hat Rudolf Steiner im letzten Vortrag zur Kölner Weihnachtstagung das Folgende ausgeführt: «Anthroposophie soll diese Geistesströmung aus dem Grunde sein, weil durch sie immer mehr und mehr erkannt werden soll, wie der Mensch in sich zur Selbsterkenntnis kommen kann.» (11)

Da Hilma af Klint einen schriftlichen Nachlass von ca. 26 000 Seiten hinterlassen hat, steht hier noch eine geisteswissenschaftliche Aufarbeitung, was ihre rosenkreuzerische Weltanschauung betrifft, bevor. (12) Die in der Albert-Steffen-Stiftung entdeckten Kunstwerke und ihr Zusammenhang mit dem Erkenntnisweg der Anthroposophie lassen dabei ahnen, warum die Bilder von Hilma af Klint in der Öffentlichkeit auf ein so großes Interesse stoßen. Es ist nicht nur der ästhetische Eindruck der Farben und Formen. (13) Vielmehr liegt dem die Sehnsucht des Betrachters zugrunde: dass «in der Anlage alles das, was in den Worten des Krishna liegt, in jeder menschlichen Seele sich findet».(14)

Zu der Ausstellung ‹Hilma af Klint – Into the Sun› ist ein Katalog mit Beiträgen u. a. von Walter Kugler, Johannes Nilo und Julia Voss erschienen. Von Letzterer erscheint im S.-Fischer-Verlag im September eine Biografie über Hilma af Klint. Wer die Ausstellung in München nicht sehen konnte, kann sich nachträglich über die Publikation des Kunstraums Bogenhausen einen Eindruck verschaffen.(15)


(1) www.kunstraumbogenhausen.de
(2) Hilma af Klint stellte ihre Bilder 1928 im Rudolf-Steiner-Haus in London aus, anlässlich der World Conference of Spiritual Science and its Practical Applications, wo sie einen Vortrag zum Rosenkreuzertum gehalten hat. Julia Voss in: Kunstraum Bogenhausen, Between the Worlds. München 2018, S. 62.
(3) Rudolf Steiner, Die Einweihung des Rosenkreuzers, in: Bilder okkulter Spiegel und Säulen, der Münchner Kongress, Pfingsten 1907. Dornach 1957, S. 31.
(4) Florian Roder, Totengedenken für Mathilde Scholl, in: Goetheanum, Nr. 27, 7/2012.
(5) Ekkehard Meffert, Mathilde Scholl und die Geburt der Antroposophischen Gesellschaft 1912/13. Dornach, S. 216 ff.
(6) Wie 5, S. 464.
(7) Rudolf Steiner, Der Bhagavad Gita und die Paulusbriefe. GA 142, Dornach 1982.
(8) Wie 7, S. 117.
(9) Rudolf Steiner, zitiert in: Oskar Kürten, Jesus von Nazareth, Ein Beitrag zum Verständnis des Jesus-Geheimnisses. Basel 1973, S. 28.
(10) The Legacy of Hilma af Klint: Nine Contemporary Responses. Stockholm 2013 (Notizbuch: Blumen, Moose, Flechten), S. 38.
(11) Wie 7, Fünfter Vortrag, Köln, 1. Januar 1913, s.124 f.
(12) K.-H.Tritschler, Ein geheimnisvoller Strang, Hilma af Klint (1862-1944) in: Das Goetheanum Nr. 26-29. Juni 2013
(13) Ausstellungen zu Hilma af Klint: Guggenheim Museum, New York, Hilma af Klint – Paintings for the future, 12. Okt. 2018–23. April 2019 Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München. Weltempfänger: Georgiana Houghton, Hilma af Klint, Emma Kunz, 6. November–10. März 2019
(14) Wie 7., Dritter Vortrag, Köln, 30. Dezember 1912, S. 62
(15) Kunstraum Bogenhausen, Between the Worlds, München 2018.

Foto: Anna Krygier

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