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Eine Reise in den Donbass

Meine Reise in die Republik Donezk war keine Heldentat. Ich kämpfte nicht, besuchte auch keine Kämpfer, brachte mich nicht in Lebensgefahr, ja es war nicht einmal ein Abenteuer mit fantastischen Geschichten, die ich noch den Enkeln erzählen kann. Nein, es war sozusagen ‹nüchtern›. Es war kein Kriegstourismus und auch keine journalistische Fahrt um aufzuklären. Es ging vor allem um die Frage: Was bedeutet Krieg und wie kann ich mich zu ‹Krieg in Europa› als Mittdreißiger, der nie Krieg erfahren hat, stellen? Ich war dort, um Menschen zu treffen, Beziehungen aufzubauen – zum Land und zu den Menschen. Es war eine Reise der Verbindung, der Beziehung.


Den Ort, den Raum habe ich begangen, erfahren, er-froren, er-atmet. Er ist mir nun nicht mehr nur eine Vorstellung, Idee, eine Sammlung loser Bilder, die mir, ohne dass ich genau weiß, woher sie stammen, assoziativ zufliegen, wenn ich an die Ukraine, an die Ostukraine oder Russland denke. Ich habe sie nun aus erster Hand selbst erlebt und kann mir Rechenschaft von diesen Bildern ablegen. Ich bin nun, was einen Kriegsschauplatz in Europa, der auch mich betrifft, anbelangt, bis zu einem gewissen Grad mündiger geworden. Nicht mehr abhängig von fremder Meinung, sondern ich bin selbstwirksam geworden. Das Rückgrat dazu sind mir nicht die Fakten, sondern der lebendige Bezug zum Ort, zu seinen Menschen, welche ja dieser Ort ‹sind›. Sie leben dort mit allem, was dazugehört. Als Zivilisten in einem Krieg. Es sind Menschen mit ihren Empfindungen, Ängsten, ihrem Mut, ihrem Willen, weiter auf dieser Welt, an dem Ort, den sie lieben, zu leben, dort ihre Kinder aufzuziehen, um ihnen eine gute Zukunft zu ermöglichen. Ich traf Menschen, ich redete mit ihnen. Es waren ‹echte› Begegnungen, durch keine Medien verstellt, von Gesicht zu Gesicht.

Wahrnehmen, nicht urteilen

Vlad etwa, der mich humorvoll, aber auch echt besorgt fragte – trotz Krieg und Hunger, als ob es nichts Wichtigeres gäbe –, ob ich homosexuell sei. Wie er gehört habe, seien viele Männer in Deutschland homosexuell. Das mache ihm Sorgen. Denn Homosexualität sei nicht normal, sondern widernatürlich. Erst als sich nach langem Hin und Her, Scherzen und Witzeleien seine Befürchtungen als unbegründet erwiesen, beruhigte er sich. Ja, nun war er wie erleichtert und nahm mich überschwänglich in seine Familie auf. Was war das für eine Szene? Muss ich Vlad meine Meinung über das Thema aufdrängen, welche ich als aufgeklärt und seine als rückständig empfinde? Muss ich Vlad ‹erziehen› oder ihm meine Glaubenssätze und meine als überlegen empfundene Weltauffassung aufdrängen? ‹Ist› Vlad seine Homophobie? Oder kann man das voneinander trennen? Ihn als Menschen und ihn als Meinungssubjekt? Muss ich ihn auf diese Meinung reduzieren, ihn mit dem, was mich von ihm trennt, identifizieren? Oder gibt es etwas anders, etwas Grundlegenderes? Etwas Einendes? Ich nahm einfach wahr. Durch das Zurückhalten eines Urteils wurde eine Verbindung geknüpft und etwas Abstraktes wurde real. Mein Bild von ‹Russe› wurde lebendig, flüssig und doch auch konkret. Es weichte auf von etwas Einseitigem, Verhärtetem zu etwas Dynamischerem, Veränderbarem, Buntem, Freudigem, Herzlichem.

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Ich hörte zu, ging nicht auf Widerstand, auf eine Argumenteebene, sondern wollte verstehen, wie man so sein kann.

Ich hörte zu, ging nicht auf Widerstand, auf eine Argumenteebene, sondern wollte verstehen, wie man so sein kann. Interesse! So erfuhr ich, dass er nicht versteht, wie man Frauen nicht mögen kann. Diese schönen, verehrenswürdigen Geschöpfe. Um die der Mann sich gerne kümmert, die man umsorgt, für die man da zu sein hat und die einem auch so viel geben und die einen umsorgen und pflegen. Das erlebt er als natürliche Weltordnung, in die er sich gerne einfügt. Der Mann sei erst ein Mann dadurch, dass es Frauen gibt, dass er Frauen liebt. Solch einen Gedanken hatte ich vorher noch nie gedacht. Da wurde ich bereichert, erweitert, ergänzt. Das heißt noch nicht, dass ich Vlads Standpunkt übernehme. Sondern nur, dass ich ihn einzunehmen vermag (zumindest probeweise und anfänglich). Das ist Verständigung. Und eine Basis für Freundschaft. Eine Basis für Frieden. Eine Verbindung wurde gestiftet. Erst einmal nur das.

Verbindung wappnet vor Manipulation

Ich merkte, es braucht ein differenzierteres Bild und damit mehr Anstrengung von mir, mehr Eigenes, was ich etwa den Medienbildern entgegenstellen muss. Ja, dadurch erkenne ich erst bestimmte Pressetexte, Medienberichte als Propaganda, weil sie interessengeleitet sind, weil sie einseitig sind, weil sie nicht der Vermitte­lung und der Information dienen, sondern der Verhärtung von Fronten durch Polarisierung und Trennung von echten Empfindungen zu realen Beziehungen. Beziehungen sind Realitäten, Feindbilder sind Projektionen, sind aufgebauschte einseitige Ideen. Man erkennt sie nur an, wenn man innerlich aussteigt und die Trennung vom Realen, von echten Beziehungen, von den eigenen Empfindungen ausklammert oder wenn sie, etwa durch Angst, überlagert werden. Im Zustand der Trennung bin ich auch von mir selbst getrennt. Man wird in eine Position der Unmündigkeit gedrängt. Eine Situation, in der ich fremde Autoritäten (Informationen von anderen usw.) anerkennen muss und ihnen mehr vertraue als der eigenen Empfindung. Das ist das Eingangstor für Manipulationen.

Der Weg zum Frieden geht nicht über fremde Urteile, die ich mir aneigne, sondern über Selbsterkenntnis, über Selbstwahrnehmung, über Begegnung, über eigenständiges Drinnenstehen in den Weltgeschehnissen. Auch in Dornach, Basel, Berlin gibt es Russen, mit denen man sprechen kann. Wird erst einmal die Möglichkeit der eigenen Verantwortungsübernahme durch Beziehungsaufbau gesehen, stehen ja tausend Möglichkeiten zur Verfügung, um selbst Herr der Verbindungen zu werden. Nicht jeder muss in den Donbass reisen, um zu lernen, wie man sich zu Krieg stellen kann. Aber mündig werden ist unsere Verantwortung. Verantwortung übernehmen für Frieden heißt, in die Begegnung, in die Beziehung, in die Selbsterkenntnis zu gehen, mutig, Schritt für Schritt, und sich dabei nicht selbst zu übergehen. Sondern fein zu beobachten, wie man selbst im Prozess drinnensteht. Den Donbass gibt es in der Welt, aber auch in jeder Seele.


Foto: Renatus Derbidge

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