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Morphologie 2.0

Unter dem Titel ‹Botanical Renaissance› berichtet ein Artikel in der renommierten Fachzeitschrift ‹Nature› im Januar 2018, dass die Expertise im Vergleichen von Pflanzen und Tieren wieder aktuell wird. Goe­the als Begründer der Morphologie kommt in der modernen Biologie wieder ins Gespräch!


Die Wissenschaftsjournalistin Heidi Ledford hat Genetiker, Evolutionsbiologen und Morphologen interviewt, die in der schwindenden morphologischen Kompetenz der Biologen ein Problem sehen. Die molekularen Befunde müssten – so der Tenor – durch eine profunde Kenntnis der einzelnen Arten ergänzt werden, um ihre Bedeutung für die Bildung und Evolution der pflanzlichen Formen zu erfassen.

Ledford schreibt, um ihre Wurzeln aufzuspüren, müssten Morphologen auf Goethe zurückgehen. Er habe die Fülle der pflanzlichen Formen in sich aufgenommen und nach einer ‹Urpflanze› gesucht, nach einem Archetyp, der sie alle verbindet. Diese romantische Idee sei unerfüllt geblieben. Aber sein Ansatz, Pflanzenstrukturen und -funktionen zu vergleichen, um etwas über ihre Entwicklung und Evolution zu erfahren, sei von den Wissenschaftlern aufgegriffen worden. Dennoch habe Darwin noch ein halbes Jahrhundert später die Evolution der Blütenpflanzen angesichts der schnellen Ausbreitung einer derart großen Bandbreite an Blütenformen, -farben und Bestäubungsstrategien als ‹widerwärtiges Mysterium› bezeichnet.

Ende des 20. Jahrhunderts habe mit der Anwendung und Verfeinerung molekularer Techniken – so Ledford – das Interesse an detaillierten Analysen von äußerlich sichtbaren Pflanzeneigenschaften nachgelassen. Und weil viele Genetiker nur mit wenigen Modellorganismen wie etwa Arabidopsis arbeiteten, sei die Expertise im Unterscheiden verschiedener Arten – die Morphologie – nicht mehr gefragt gewesen. Aber in jüngster Zeit sei eine Auferstehung der alten Methoden zu beobachten. Die Fortschritte in Gene-Editing und Sequenziertechniken erlaubten es Genetikern, in einem breiteren Spektrum der Flora mit dna vergleichend zu experimentieren. Im Zusammenhang mit modernster Bildtechnik, die dreidimensionale Einsicht in lebendige pflanzliche Strukturen gewährt, sei der Drang, Darwins ‹widerwärtiges Geheimnis› zu lüften, neu belebt worden. Mit der Kombination dieser verschiedenen Ansätze hofften Wissenschaftler, Fragen zu beantworten, die in der Biologie seit hundert Jahren gestellt worden sind: wie Gene im Verbund mit der Umgebung die reiche Diversität der Pflanzenformen gestalten.

Dan Chitwood, Pflanzenmorphologe an der Michigan State University, hat molekulare Techniken eingesetzt, um in einem Seegras, das aus einer einzigen Zelle komplexe Strukturen wie einen Stamm und farnartige Blätter bildet, die Genexpression zu verfolgen. Sie verändert sich in den gleichen Mustern wie in entsprechenden Strukturen bei vielzelligen Pflanzen. Das passt nicht zu der gängigen These, dass die Zellteilungsrate bei der Entstehung der Gestalt eine wichtige Rolle spielt.

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Goethes originärer Beitrag zur Wissenskultur hat sich erst im 20. Jahrhundert verbreitet: die Einsicht, dass Bedeutung immer von Menschen verliehen wird und niemals außerhalb eines Subjekts existiert.

Mit Goethes Ansatz zum Verstehen des Lebendigen können dagegen Chitwoods Ergebnisse gut erklärt werden. Wie sich der Künstler bei der Umsetzung seiner Idee immer mit den Eigenschaften des verwendeten Materials auseinanderzusetzen hat, bringt für Goethe ein kreatives organismisches Gesetz – die ‹Urpflanze› oder der Typus – in Interaktion mit seinem materiellen Substrat Lebewesen zur Erscheinung – modifiziert durch die Gesetzmäßigkeiten ihrer Umgebung. Die pflanzliche Natur eignet sich im Laufe der Zeit bestimmte Fähigkeiten oder Muster an, die in der weiteren Entwicklung wieder eingesetzt werden können. Dass in mehrzelligen Pflanzen während der Gestaltbildung die gleichen Genexpressionsmuster ‹verwendet› werden wie schon bei der Ausbildung ähnlicher Strukturen im einzelligen Seegras, erscheint aus dieser Sicht einleuchtend. Goethes ‹romantische› Idee eines verbindenden Agens aller pflanzlichen Entwicklungsprozesse und Strukturen wird erstaunlicherweise gerade durch die Resultate der Genetik wieder aktuell. Ein weiteres Beispiel dafür ist seine These, die Blütenorgane seien modifizierte Laubblätter. Fast 200 Jahre später haben die Genetiker Weigel und Meyerowitz in ihrer Review zum abc-Modell der homeotischen Gene bei Blütenpflanzen geschrieben, Goethes Konzept werde durch Doppel- und Dreifachmutanten bei Arabidopsis bestätigt.

Was Heidi Ledford nicht explizit erwähnt, ist, dass die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit größtem Einsatz verfolgte Idee, man werde mit der Entschlüsselung des genetischen Codes das ‹Buch des Lebens› entziffern können, sich ebenfalls als unerfüllbar erwiesen hat. Craig Venter, einer der leitenden Köpfe im Human Genome Project, bezeichnet sie als ‹unglaublich naiv›. Denn die Kenntnis des Entwicklungsprogramms allein kann seine konkrete Bedeutung für die Eigenschaften des Organismus nicht klären.

Goethe war ein Meister in der Reflexion von Bedeutungsvergaben. Sein originärer Beitrag zur Wissenskultur hat sich erst im 20. Jahrhundert verbreitet: die Einsicht, dass Bedeutung immer von Menschen verliehen wird und niemals außerhalb eines Subjekts existiert. Dies hat ihn bewogen, einen integrativen Wissenschaftsansatz zu entwickeln. Dieser verfolgt die Schulung eines unabhängigen Denkens und Empfindens, das offen und zugleich kritisch sowohl auf tradierte Theorien und Konzepte als auch auf moderne Ideen und innovative Techniken blickt und sie auf ihren Wert für das menschliche Leben befragt. Insbesondere der letztgenannte Aspekt bietet der heutigen Wissenschaft, die im Begriff ist, in einem Wald von ‹Fakten› die Orientierung zu verlieren, eine notwendige Ergänzung an. Dem menschheitlichen Unternehmen Wissenschaft dienen sowohl naive als auch romantische Ideen als Motor.

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