Wo die Einheit aufersteht

Mathematikstunde in einer 12. Klasse. Wir entwickeln den Gedanken, dass zwei parallele Geraden im Unendlichen eine Art gemeinsamen Punkt erzeugen. Irgendwann ist die Herleitung zu der abenteuerlichen Idee dann an der Tafel.


«Können Sie das noch mal erklären?», fragt eine Schülerin. Also gehen wir den Weg noch einmal durch. Die Schülerin schüttelt den Kopf: «Sie haben es noch mal genau gleich erklärt.» Richtig: noch mal erklären heißt ‹anders› erklären, noch mal sagen heißt ‹anders› sagen, ‹neu› sagen. Durchgefallen.

Anders in der Technik: Wie eine Kamera, ein Computer aussieht und gebaut ist, das sollte dem Datenblatt, der Norm entsprechen. Die Gleichheit ist hier ein hohes Gut, aber schon auf der Stufe des Lebens ist es anders, jede Gurke bleibt ein Unikat, jede Banane hat zum Trotz aller Systematik ihre eigene Krümmung. Das Leben zu verstehen, bedeutet, seine Vielfalt und Verschiedenheit lieben zu lernen. In Seele und Geist wird aus dem Vielen das Eigene, das Individuelle, und so feiert die Einheit in dem ‹einen› Blick, der ‹einen› Erklärung, der ‹einen› ausgearbeiteten Eurythmiefigur ihre Auferstehung. Der Gedanke lässt taumeln: Deshalb ist in einer Bibliothek nicht ‹mehr› als im einzelnen Gedanken, ist die Menschheit nicht größer als der eine Mensch.

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