Sitzen wir zwischen den Stühlen!

Ein Aufruf gegen Besserwisserei in Corona-Zeiten.


Vor einem Jahr feierten die Waldorfschulen ihr 100-jähriges Bestehen mit erfolgreichen Aktivitäten, und die Öffentlichkeit hat den Geburtstag positiv begleitet. Aufgrund der Coronapandemie wurden am 17. März 2020 die Schulen in Baden-Württemberg wegen des ersten Lockdowns geschlossen, zum ersten Mal seit über 70 Jahren. Seitdem wirbelt die Pandemie alles durcheinander. Interessanterweise gab es zeitlich parallel zur Gründung der ersten Waldorfschule auch eine Pandemie, die Spanische Grippe. Es starben über 20 Millionen Menschen. Die Spanische Grippe eroberte die Frontabschnitte und kam durch infizierte Heimaturlauber, Verletzte und Kriegsgefangene in jede Ecke des Kontinents. Das Kriegsgeschehen ‹ersetzte› die damals noch nicht übliche Reisetätigkeit, die heute das Corona-Virus verbreitet. Das Ende des Ersten Weltkriegs hinterließ ein zerstörtes Europa. Schon in der kleinen Schrift ‹Die Erziehung des Kindes› sprach Rudolf Steiner von Zeitforderungen wie etwa der Frauen-, Erziehungs- und Gesundheitsfrage, den Rechtsfragen usw.1 «Es ging also um die Wahrnehmung der Nöte der Zeit».2 Aus dieser Wahrnehmung der Zeit ist die Waldorfschule gegründet worden.

Wo sah Steiner Möglichkeiten, Reformideen zu entwickeln, die praktisch werden? In der Geisteswissenschaft: «Die Aufgabe, eine das Wesen des Menschenlebens umfassende praktische Weltauffassung zu geben, muss ihrer ganzen Anlage nach die Geisteswissenschaft haben.»3 Steiner legte Wert darauf, dass es nicht um kluge Ideale gehe, die man vor sich herträgt, sondern um eine praktische Weltauffassung. Anthroposophie will praktisch werden. Natürlich hat Steiner aus Idealen gesprochen und natürlich versuchen wir auch heute, unsere Ideale zu verwirklichen. Aber die schönsten Ideale sind unfruchtbar, wenn sie nicht auf den Boden kommen. Es verändert in der Welt nichts zum Positiven, wenn man schöne Ideale formuliert, am besten noch für andere, sie aber nicht selber verwirklicht. Steiner betont, dass selbst die Ideale eines Fichte für das reale Leben unbrauchbar seien, wenn man nur anderen Ratschläge gebe, ohne selber praktisch tätig zu werden.4

Wir sollten zeigen, dass wir engagiert Probleme lösen können, und nicht, was wir alles besser zu wissen glauben.

Der Geist-Realist Steiner hat für die zu gründende Waldorfschule nicht Maximalforderungen gestellt. Er hat aus den Idealen gesprochen und ist aktiv und positiv mit den widrigen Forderungen seiner Zeit umgegangen. Am Vorabend des Kurses zur ‹Allgemeinen Menschenkunde› sagte er am 20. August 1919: «Kompromisse sind notwendig, denn wir sind noch nicht so weit, um eine wirklich freie Tat zu vollbringen. Schlechte Lehrziele, schlechte Abschlussziele werden uns vom Staat vorgeschrieben.»5 Und weiter: «Wir werden einem harten Kampf entgegengehen und müssen doch diese Kulturtat tun. Zwei widersprechende Kräfte sind dabei in Einklang zu bringen. Auf der einen Seite müssen wir wissen, was unsere Ideale sind, und müssen doch die Geschmeidigkeit haben, uns anzupassen an das, was weit abstehen wird von unseren Idealen. Wie diese zwei Kräfte in Einklang zu bringen sind, das wird schwierig sein für jeden Einzelnen von Ihnen. Das wird nur zu erreichen sein, wenn jeder seine volle Persönlichkeit einsetzt. Jeder muss seine volle Persönlichkeit einsetzen, von Anfang an.» Am Ende dieser Ansprache kommt ein flammender Appell: «Wir werden nur dann gute Lehrer sein, wenn wir lebendiges Interesse für alles haben, was in der Welt vorgeht. Durch das Interesse für die Welt müssen wir erst den Enthusiasmus gewinnen, den wir brauchen für die Schule und für unsere Aufgaben. Dazu sind nötig Elastizität des Geistes und Hingabe an unsere Aufgabe. Nur aus dem können wir schöpfen, was heute gewonnen werden kann, wenn Interesse zugewendet wird erstens der großen Not der Zeit, zweitens den großen Aufgaben der Zeit, die man sich beide nicht groß genug vorstellen kann.»

Heute sind wir in einer ähnlichen Situation. An den 250 Schulen in Deutschland wagen die Kolleginnen und Kollegen jeden Tag diesen Spagat zwischen den eigenen Idealen und den äußeren Anforderungen. Christof Wiechert nennt das den ‹Ethos des Lehrens›. Im Jahresbericht des Bundes der Freien Waldorfschulen von 2020 steht: «Die allermeisten unserer Lehrerinnen und Lehrer haben sich während dieser monatelangen Ausnahmesituation unendlich viel Mühe gegeben, um mit viel Fantasie und Mehrarbeit das Beste für die Kinder und Jugendlichen zu tun, ihnen Anregungen für eigenes Lernen und neue Erfahrungen zu geben, den Kontakt zu ihnen zu halten und Waldorfpädagogik außerhalb der gewohnten Bahnen zu verwirklichen, auch mithilfe digitaler Technologien. Das ist die eigentlich wichtige Nachricht – überschattet von der Lautstärke der Besserwisser.»6

Die meisten dieser Besserwisser unterrichten nicht und haben es oft noch nie getan. Aber sie erteilen den Waldorfschulen ungefragt öffentlich Ratschläge. Es werden Ideale verkündet, die andere befolgen sollen. Hört auf damit, die Besserwisser zu geben! Hier werden nur die Kämpfe der Vergangenheit gekämpft: ‹Wir hier drinnen, ihr da draußen›. Nein, wir arbeiten heute transparent und kompetent mit allen gesellschaftlichen Strömungen zusammen und suchen den wechselseitigen Dialog. Die Unterscheidung zwischen ‹spirituell› und ‹materialistisch› ist verführerisch, aber unfruchtbar. Sie spaltet, statt zur Verständigung beizutragen, und sie verdeckt nicht selten die eigene Unfähigkeit, aus übernommenem Offenbarungswissen selbst einen substanziellen und praktischen Lösungsvorschlag zu erarbeiten. Wir sollten zeigen, dass wir engagiert Probleme lösen können, und nicht, was wir alles besser zu wissen glauben. Das Erstere machen die Kolleginnen und Kollegen jeden Tag praktisch und im Stillen in den Schulen. Das Letztere intonieren ungefragt einige, die die reine Lehre vertreten, oder das zumindest vorgeben, aber in keinerlei praktischer Arbeit an Schulen stehen.

Ja, der Spagat ist gerade groß. Aber wir leben in einem demokratischen Land mit demokratisch gewählten Regierungen. Die Schulen unterstehen wie wir alle den rechtlichen Vorgaben. Im Moment verwechseln aber viele Geistesleben und Rechtsleben. Es ist nicht die Aufgabe der Schulen, anderen Ratschläge zu erteilen. Unsere Aufgaben könnte man abschließend wie folgt formulieren: «Im Allgemeinen erlebt man den Ausdruck ‹zwischen zwei Stühlen sitzen› als nicht sehr positiv. Jetzt hat dieser Ausdruck einen großen Reiz: Erzieher und Pädagogen sollten sich in ihrem Urteil bezüglich der Pandemie und aller eingeforderten Maßnahmen gerade zwischen die Stühle setzen, damit sie den Kindern, Schülern und Eltern das bieten, wozu sie da sind: unter allen Umständen guten und noch besseren Unterricht.»7


Titelbild: Sofia Lismont

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes. GA 34, S. 309.
  2. Albrecht Schad, Gründungsimpulse und die Zukunft der Waldorfschule. In: Rundbrief der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, Ostern 2018, Nr. 63.
  3. Siehe Fußnote 1, S. 310.
  4. Rudolf Steiner, GA 186, 7. Vortrag vom 12.12.1918.
  5. Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde. GA 293, S. 13 ff.
  6. H. Kullak-Ublick: Öffentlichkeitsarbeit vor und im Corona-Jahr.
  7. Christof Wiechert, Unterricht in schwierigen Zeiten oder das Ethos des Lehrens. In: F. Schmidt, T. Zdrazil, Die Waldorfschulen auf dem Weg durch die Corona-Krise. 2021, S. 12.

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