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Ein neues Lernparadigma, nicht nur für die Corona-Krisenzeiten

Wegen der Coronakrise werden Schulen in vielen Ländern weltweit geschlossen. Online-Learning wird dabei automatisch als «Palliativ» für diese Situation eingesetzt. Für Thomas Stöckli fordert diese Ausnahmesituation, dass wir unseren Begriff von Schule wieder beweglich machen und gemeinsam Neues über das Lernen lernen.


Neu ist das Lebenslernen an sich nicht, wir praktizieren es alle. Je bewusster wir es tun, desto effektiver wird es, auch in der Pädagogik, und vor allem in der Jugendbildung. Es ist schwer, in Worte zu fassen, denn es gehört zum Mysterium des Lebens. Gehen wir etwa zweihundert Jahre oder länger zurück. Da war die Meinung noch weit verbreitet, dass es im Leben vor allem darauf ankomme, ein gottgefälliges Leben zu führen, und dass die Kirche und eigentlich nur diese mit den dafür geweihten Priestern dies den Menschen vermitteln könne. Es gab Gotteshäuser, in denen dies gelehrt wurde. Ein individuelles ‹Ich bin›-Bewusstsein bahnte sich zwar früher in Ketzerkreisen, dann durch die Aufklärung seinen Weg. Aber als neues Paradigma, als Paradigma im Sinne eines allgemeinen Grundverständnisses, wurde der Weg erst im 20. Jahrhundert dafür frei, dass sich die Menschen ohne Gewissensbisse bewusst waren, dass sie sich ganz individuell auf die Suche machen müssen, dass sie dafür weder Priester noch Kirchenbau brauchen, dass das Leben selbst sie lehren muss, wie ein ‹Ich bin› in der Transzendenz zur Erfahrung werden kann. Das Monopol der Kirche und der Glaubensträger wurde gebrochen.

Monopol des Lernens

Wie verhält sich dies nun zum Lernen an sich, wer ist dafür zuständig? Wir haben heute ein Monopol von neuen Schriftgelehrten, ein Monopol, das in unserem Leben seinen Platz viel stärker behauptet als jede Kirche, die sich um das private Seelenheil kümmert: Wir haben Schulen und Universitäten, in denen das Wissen unserer Zeit nicht nur verwaltet, sondern auch gelehrt, und nicht nur gelehrt, sondern auch mit ‹Sanktionen› belegt wird (Selektion, Prüfungen etc.). Wir haben Lehrinstitutionen, die staatlich verwaltet werden, in denen Kinder von der Vorschule bis ins Jugendalter unterrichtet werden und die klare Messlatten zur Selektion vorgeben, Kernfächer wie Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaft, wir haben eine Aufstockung im Tertiärbereich mit den Fachhochschulen und Hochschulen und dem Trend zur Akademisierung in ganz Europa mit einem Leistungspunktesystem nach Bologna.

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Wir haben heute ein Monopol von neuen Schriftgelehrten, ein Monopol, das in unserem Leben seinen Platz stärker behauptet als jede Kirche, die sich um das private Seelenheil kümmert.

Gibt es auch da trotzdem Anzeichen eines neuen Lernparadigmas, eines Brechens des Monopols? Damit meine ich nicht nur die etwa fünf Prozent Privatschulen (im Falle der Schweiz), sondern etwas viel Radikaleres, eine «Entschulung der Gesellschaft», wie sie schon von Ivan Illich postuliert wurde. (Allerdings gehe ich jedoch davon aus, dass dies in der Form Illichs unrealistisch ist, trotz der Homeschooling- und Freies-Lernen-Bewegung und der Aussteigergemeinschaften: Zu einem neuen Lernparadigma der Gesellschaft wird dies nicht.) Wie wird ein Lebenslernen möglich, wie es Hesse beschrieben hat (‹Kindheit eines Zauberers›)?

Nicht von Eltern allein wurde ich erzogen, sondern von höheren, verborgeneren und geheimnisvolleren Mächten […]. Zum Glück habe ich, gleich den meisten Kindern, das fürs Leben Unentbehrliche und Wertvollste schon vor Beginn der Schuljahre gelernt, unterrichtet von Apfelbäumen, von Regen und Sonne, Fluss und Wäldern, Bienen und Käfern, unterrichtet vom Gott Pan, unterrichtet vom tanzenden Götzen in der Schatzkammer des Großvaters. Ich wusste Bescheid in der Welt, ich verkehrte furchtlos mit Tieren und Sternen, ich kannte mich in Obstgärten und im Wasser bei den Fischen aus und konnte schon eine gute Anzahl von Liedern singen. Ich konnte auch zaubern, was ich dann leider früh verlernte und erst in höherem Alter von Neuem lernen musste, und verfügte über die ganze sagenhafte Weisheit der Kinder.

 


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Neues Lernparadigma

Ein neues Lernparadigma bahnt sich an, einerseits in den Erziehungswissenschaften aufgrund eines neuen Lernverständnisses, das informelles, inzidentelles Lernen genannt wird, für die im Leben beiläufig erworbenen Kompetenzen, die viel wichtiger seien als die im formellen, institutionellen Lernen erworbenen Kompetenzen. Das größte deutsche pädagogische Institut, das Deutsche Jugendinstitut, hat sich in den letzten Jahrzehnten diesen Lernformen in Freizeitlernen, in Service Learning, in Lebenswelten außerhalb der Schule gewidmet. So hatte sich vor Jahren die Stadt Berlin ein neues Lernverständnis auf die Fahne geschrieben: Duales Lernen-Berlin genannt. Die Bildungsverantwortlichen wollten das Grundverständnis von Schule erweitern und viele externe Partner in einem Bildungsnetzwerk verbinden. Ein spannender Anfang einer neuen Idee von Schule.

Doch für eine wirkliche Bildungsrevolution, die das Monopol der Schriftgelehrten-Institutionen bricht, reicht all dies noch nicht. Es gibt aber allerorten starke Reaktionen und stille Revolutionäre, jedoch ganz anders als die 68er-Bewegung. Es sind bereits die kleinen Kinder, die heute revoltieren, es sind Hunderttausende von Schülerinnen und Schülern, von Jugendlichen, die das nicht mehr mitmachen mögen. Von den Monopolträgern bekommen sie, weil sie ja noch Kinder oder Jugendliche sind, nun Labels verpasst, um sie an das System anzupassen, wenn nötig mit Medikamenten: adhs, ads, bipolare Asperger-Störung, Hochsensitivität etc. Falsch sind die Diagnosen nicht, oft mag eine Therapie auch hilfreich und nötig sein, nur sind diese Auffälligkeiten eben auch als eine Reaktion zu verstehen. Sie zeigen ein Leiden an unserer Gesellschaft, am Menschsein, eine Unfähigkeit, sich einzufügen, mit dem dazugehörigen Scheitern und dem seelischen Leiden.(1) Man verstehe mich nicht falsch, ich gebe nicht einem System die Schuld oder der Leistungsgesellschaft oder gar den Bildungsverantwortlichen – das wäre zu einfach gedacht. Ich gehe aber davon aus, dass die Prognosen von Rudolf Steiner stimmen, gemäß denen ab der Mitte des letzten Jahrhunderts, genauer ab 1933, und dann in den folgenden Jahrzehnten bis ins 21. Jahrhundert, also heute, eine neue Generation von Kindern und Jugendlichen auf die Erde gekommen ist, die eben hochsensitiv sind, wie das heute genannt wird, und die, wenn diese neuen Fähigkeiten des Lernens und Erfahrens keinen Raum finden, auch seelisch ‹zertrampelt› werden könnten. Hochsensitiv heißt dünnere Haut, heißt Antennen, die ‹zu viel› wahrnehmen und ein normales Funktionieren in einer materialistischen und auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft sehr erschweren.

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Lernen für das Leben bedeutet viel mehr als ein Fitwerden für gute Jobs und das Erwerbsleben. Es bedeutet, das Leben in seiner Polarität von Lebensbereichen zu verstehen.

Und hier kommen wir nun zu der Aufgabe einer zeitgemäßen Pädagogik und zur Frage, welche Kernkompetenzen dabei gefördert werden müssen. Es geht um jeden von uns: Welche Kernkompetenzen müssen wir selbst entwickeln und welche Institutionen braucht es heute, in denen diese neuen Revolutionäre eine Heimat finden können? Welches sind die Perspektiven, die dann auch schrittweise einem neuen Lernparadigma zum Durchbruch verhelfen und das Monopol, das heißt die Alleinherrschaft der Schulinstitutionen, wie sie heute sind, brechen oder zumindest aufweichen?

Pädagogische Oasen

Es braucht heute mehr denn je pädagogische Oasen, ein Daheim für die Kinder, eine pädagogische soziale Gemeinschaft, ein Netzwerk von Pädagoginnen und Pädagogen mit Herz, von Eltern und von toleranten Schulbehörden, die offen sind für ganz neue Lernnetzwerke. Der weltweite ‹Großversuch›, in dem anlässlich der ‹Coronakrise› der reguläre Unterricht, die traditionellen Schulen für eine bestimmte Zeit außer Kraft gesetzt wurden, stellt uns genau vor diese Aufgaben.

Nur Online-Learning genügt eben nicht, es braucht neue Gemeinschaften und im Sinne Johann Heinrich Pestalozzis eine Besinnung auf das familiäre Umfeld und das Lernen ‹zu Hause› (eine neue Form des Homeschooling). Es gibt nun über dieses Institutionelle hinaus zentrale Kompetenzen, die zuerst bei uns als Pädagoginnen und Pädagogen entwickelt werden müssen, damit sie dann auch für die neue Bildung förderlich sein können.

Es gibt zwei Grundlagen, damit sich daraus die Kernkompetenz, das Können, entwickeln kann:

1. Das Lebenslernen verstehen und praktizieren, persönlich, im pädagogischen Beruf und als Institution. Damit ist gemeint, dass wir das Leben wieder in seiner Transzendenz zu verstehen suchen, jeder einzelnen Situation im Sinne von Viktor Frankl Sinn geben, dass wir nicht einseitig eine romantische Vorstellung des Lebens pflegen oder einseitig nur eine pragmatische Zielsetzung verfolgen. Lernen für das Leben bedeutet eben viel mehr als ein Fitwerden für gute Jobs und das Erwerbsleben. Es bedeutet, das Leben in seiner Polarität von Lebensbereichen zu verstehen, von Schule und Praxis, von Lernen im Privaten außerhalb des Schulischen, des Zaubers in der Magie des Lebens (Hesse) einerseits und des leistungsorientierten eindimensionalen Lernens andererseits, d. h. auch ‹learning to play the game›, also auch wo nötig die Abschlüsse zu absolvieren, die heute gebraucht werden, und gleichzeitig das ‹Ich bin› in seiner einzigartigen Originalität zu kultivieren. Das ist dann Lernkunst oder Erziehungskunst.

2. Daraus folgt das, was auf allen Stufen als Lebenslernen gelebt werden kann: in Kindergarten und Unterstufe das entdeckende Lernen; dann das forschende Lernen; im Jugendalter dann das duale Lernen im Mittelschulbereich, wie das an der Waldorf-Mittelschule Jurasüdfuß 20 Jahre lang radikal praktiziert wurde, 50 Prozent der Zeit im Schulhaus mit schulisch-konventionellem Lernen inklusive Abschlüsse und 50 Prozent außerhalb des Schulhauses an externen Lernorten als Langzeit-Projektlernen; und dann als Studierende und Berufsleute die Praxisforschung, das duale Lernen immer im Verbund von Theorie und Praxis, wie dies an der Akademie für Anthroposophische Pädagogik (Dornach) für die Studierenden angelegt ist und nun seit 20 Jahren so praktiziert wird.

Die Kompetenz der Inkompetenz

Wir nähern uns nun schrittweise dem Kern der Sache, was alles ‹im Innersten zusammenhält›. Wir müssen zuerst unseren inneren Meister finden, von dem wir das Lebenslernen lernen können. Rudolf Steiner gab klare Wegweiser zu einer Lebensphilosophie der Befreiung von alten Monopolen und zu einem Aufbruch zu neuen geistigen Horizonten. Seine wegweisenden Worte dazu waren: Das Leben ist der große Meister. Dies ist nicht metaphorisch gemeint, sondern ganz real, auch im Sinne des Christus-Wortes: ‹Ich bin das Leben.› Dieses Leben lehrt uns allerdings oft auch durch einen Widerstand, eine Krise, durch ein Problem, durch einen Schatten, durch ein Kreuz, das uns auferlegt wird oder das wir als Erzieher in Freiheit auf uns nehmen.

 


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Es gibt einen seltsamen Widerspruch, einen unlösbaren, eine Antinomie, es ist die Kompetenz der Inkompetenz, des Nicht-Könnens. Der große Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel schrieb dazu eine Kolumne: ‹Ich bin der, der es nicht kann›. Ich bin der, der ich bin, und gleichzeitig der, der es nicht kann, weil ich noch nicht das umfassende Ich bin. Oder weniger philosophisch ausgedrückt: Nur wenn ich strebe und gleichzeitig erlebe, dass ich auch im Scheitern, in Misserfolgen, im Leiden wertvoll bin, ja erst dann kann mein wahrer Kern zum Vorschein kommen, erst dann kann ich den neuen Revolutionären, den Gescheiterten, den Gestrandeten, den Heimatlosen ein Daheim geben. Denn sie suchen heute kein Mitleid von oben herab, sondern ein Mit-Leiden, ein Mit-Gefühl, das, was wir heute unter Empathie verstehen. Was hält die Welt denn im Innersten zusammen, was meinte Goethe in seinem ‹Faust›, was fand er denn als Antwort? Im Scheitern, im Schuldigwerden im Leben hielt und erlöste ihn eine dauerhafte Liebe, ihn, den großen Nicht-Könner. So alt diese Sehnsucht auch ist, sie bleibt der Kern des Strebens, des Strebens nach Empathie, auch ganz unsentimental Liebe genannt.

Zum Schluss noch ein tröstlicher und auch erschütternder Gedanke Rudolf Steiners aus dem Vortrag, den er in höchst dramatischen Krisenzeiten direkt nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs im Oktober 1918 in Zürich hielt.(2) Der Titel des Vortrags heißt: ‹Wie finde ich den Christus?› Er meinte dies natürlich nicht konfessionell, sondern im Sinne von: Wie finde ich mein wahres, höheres ‹Ich bin›?

«Keiner, der ehrlich diese Selbsterkenntnis anstrebt, wird sich anderes heute als Mensch sagen können als: Ich kann das nicht fassen, was ich eigentlich anstrebe. Ich bleibe mit meiner Fassungskraft hinter dem, was ich anstrebe, zurück; ich empfinde meine Ohnmacht gegenüber meinem Streben. – Es ist dieses Erleben ein sehr wichtiges. Dieses Erleben müsste jeder haben, der ehrlich mit sich selber, in Selbsterkenntnis zu Rate geht: ein gewisses Ohnmachtsgefühl. Dann, wenn man genügend kräftig diese Ohnmacht empfindet, dann kommt der Umschlag. Dann kommt das andere Erlebnis, das uns sagt: Aber wir können, wenn wir uns nicht an dasjenige hingeben, was zu erreichen wir durch unsere Leibeskräfte alleine imstande sind, wir können, wenn wir uns hingeben an dasjenige, was uns der Geist gibt, überwinden diesen innerlichen Seelentod. Wir können die Möglichkeit haben, unsere Seelen wiederzufinden und an den Geist anzuknüpfen. Wir können erleben die Nichtigkeit des Daseins auf der einen Seite und die Verherrlichung des Daseins aus uns selber, wenn wir hinüberkommen über das Spüren der Ohnmacht.»


Bilder: Philipp Tok, ‹Raumformen›, Tinte und Metall auf Papier, Dornach 2019

(1) Die Suizidproblematik spricht eine dramatische Sprache. Die Schweiz verzeichnete im Jahr 2019 33 000 Suizidversuche, oder etwa 90 pro Tag, und im Schnitt 3 oder 4 suizidbedingte Todesfälle pro Tag.

(2) Rudolf Steiner hat dann im August 1919 in Dornach, als Vorbereitung der Gründungskurse für die ersten Waldorflehrer, den dramatischen spirituellen Zeithintergrund dargestellt: Die Kinder, die ins 20. Jahrhundert geboren würden, hätten eine innere Furcht und Angst, in die Welt einzutreten, weil sie spürten, dass die Intelligenz, so wie sie sich im 20. Jahrhundert entwickle, eine Neigung zum Bösen habe. Es gehe bei den Erziehern darum, dies zu erkennen und selbst den Sinn der Erdenentwicklung tief innerlich zu erfassen, was in einem Verständnis des Mysteriums von Golgatha bestehe. Dieses habe aber nichts mit Konfessionen und Religionsgemeinschaften zu tun. Er hat dann also die oben angeführte seelische Disposition für die Pädagogik konkretisiert (GA 296, Vortrag vom 16. August 1919).


Weiterführende Links

Institut für Praxisforschung Solothurn (siehe dort die Dokumentation zu den erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Lebenslernens).

Akademie für Anthroposophische Pädagogik.

‹School is closed›-Projekte aus Waldorfschulen und Lebenslernkonzepte von Studierenden – laufend aktualisiert.

Neuer Blog ‹School in times of Corona›

Die Pädagogische Sektion am Goetheanum eröffnete einen Blog für Lehrer und Pädagoginnen mit Ideen und Anregungen rund um die Themen Schule zu Hause und Lehrerkonferenzen. (Siehe auch ‹Schule zu Hause›).

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