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Bewegung und Figur

Die Entwicklung der Eurythmiefiguren durch Edith Maryon und Rudolf Steiner. Noch bis zum 31. Juli kann man im Goetheanum und im benachbarten Haus Duldeck die aufschlussreiche Ausstellung ‹Bewegung, Gefühl und Charakter› über Eurythmiefiguren aus der Entstehungszeit besuchen. Die Figuren, die von Edith Maryon und Rudolf Steiner selbst geschaffen wurden, zeigen eine der letzten Etappen der künstlerischen Forschung, die die beiden Urheber über mehrere Jahre unternahmen, um eine revolutionäre plastische Formsprache aus dem Wesen der Eurythmie zu entwickeln.


Die Eurythmiefiguren waren die erstaunliche Antwort auf die Frage, wie eurythmische Bewegungen festgehalten werden könnten. Wie Marie Steiner schildert, wurde schon früh Zeit auf dieses Anliegen verwendet, denn die Frage entstand bereits vor der Eigeninitiative der Bildhauerin Edith Maryon, doch: «Die fotografischen Aufnahmen konnten nur schwer einen Begriff von der Kunst vermitteln, da die Bewegung, die das Wesentliche darin ist, erstarrte.» (1) Daran wird schon deutlich, dass bloße Reflexion nicht den Eindruck des Wesens der Eurythmie erreichen konnte. Dafür war es nötig, auf der künstlerischen Ebene, in Erarbeitung einer stimmigen Formsprache, Bilder zu kreieren, die zur Seele des Betrachtenden sprechen. Maryons Versuche, Eurythmie in der Bildhauerei abzubilden, gaben den Anstoß und ihr Forschungsweg bildet die Vorlage, auf der Rudolf Steiner letztlich die Schöpfung der Figuren vollziehen konnte. Ein erster Blick in den Entstehungsprozess hilft, das künstlerische Ringen und die Fragen zu verstehen, die später zu den Kunstwerken der Eurythmiefiguren führten.

Schritte zu einer neuen Form

1 ‹Figurine für das O› Edith Maryon, Goetheanum Dokumentation, Foto: Thomas Dix. 2 ‹Die Spröde› Edith Maryon, Goetheanum Dokumentation, Foto: Thomas Dix. 3 Sperrholz-Figur mit Zellophan-Schleier Edith Maryon, Goetheanum Dokumentation, Foto: Johannes Nilo

Bereits 1919 schuf Edith Maryon einen Versuch für fünf Vokalgebärden in kleinen, vollplastischen Figurinen, die jedoch bewegungslos erscheinen. Wenig später entstanden Reliefs, die bereits das wesentliche Element der Schleierbewegung zeigen. Wie Rex Raab, Autor der Biografie ‹Edith Maryon – Bildhauerin und Mitarbeiterin Rudolf Steiners›, aber bemerkt, haben auch diese Reliefs – trotz ihres modern-griechischen, leichtfüßigen Anscheins – ihre Grenzen. Obwohl der Naturalismus vom Anfang teilweise überwunden werde, indem sie die Schleier nur als Mittel zur Gestaltung der Bewegung hervortreten lasse, könne eine Gefühlsstimmung kaum dargestellt werden und sie wirkten schwer. (2) Aus diesem Anlass habe Steiner, der Maryons Prozesse im Austausch mit ihr miterlebte, dann die Anregung gegeben, mit den Mitteln der Farbe und zweidimensional weiterzuarbeiten. (3) Hierfür fertigte Maryon eine Reihe von Skizzen in Schwarz-weiß an, um dem Element der Fläche näher zu kommen, bis sie, zu Beginn des Jahres 1922, einige erste Versuche auf dünnem Sperrholz mit Farben wagte. Diese Figuren sind zwar flach. Maryon löst sich jedoch nicht von der Dreidimensionalität und schafft Effekte; so bleiben Gesichter und Gewänder im naturalistischen Stil aufgemalt und erzeugen den Eindruck einer ‹echten› Menschengestalt mit eurythmischer Gebärde.

Im Sommer 1922, nach drei Jahren der Forschung durch Maryon, entwickelt Steiner schließlich selbst schraffierte Zeichnungen mit Farbangaben für Bewegungs-, Gefühls- und Charakterausdruck der Eurythmiegebärden, nach deren Vorlage die bekannten Skulpturen entstehen. Er bringt es fertig, die bereits entwickelten Elemente auf ihr Wesentlichstes zu reduzieren: farbige Flächen und eine raumbestimmende Umrisslinie der flachen Skulptur. In der Reduktion verbannt er jeden Naturalismus und findet einen unnatürlichen, geometrisch-mineralischen Stil. Auch der Schleier wird nun frei von physikalischen Gesetzen und nimmt alle nur möglichen Formen an.

Wie Rex Raab hervorhebt, steigert Steiner durch die Nüchternheit der Mittel die Kraft der Darstellung und kommt zu einem allgemeingültigen Resultat: «Bei Maryon sehen wir eine Trauernde, deren edle Gestalt uns berührt; bei Steiner ist sie die Trauer selbst!» (4)

Dieser radikale Einschnitt wurde von Maryon aufgegriffen, und sie schafft bereits bis zum August desselben Jahres die ersten 17 Eurythmiefiguren. Der gemeinsame Forschungsprozess hörte jedoch nicht auf. Steiner bemalte nur wenige Figuren mit eigener Hand, einige korrigierte er selbst, aber der Großteil der ersten Figuren stammt von Edith Maryon, die bis zu ihrem Tod 1924 nach Wegen suchte, um die Skizzen ihres Lehrers malerisch-plastisch umzusetzen. So wird in der Ausstellung und in dem neu erschienenen Studienkatalog (siehe Buchbesprechung weiter unten) deutlich, dass ihre Ansätze divers sind und sie nie ‹reproduzierte›, sondern jeweils nach einem Werk künstlerisch strebte.

3 Sperrholz-Figur mit Deckfarben zu ‹Lieblichkeit› Edith Maryon, Goetheanum Kunstsammlung. 4 Linienzeichnung zu ‹Lieblichkeit› Rudolf Steiner, Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach. 6 ‹Lieblichkeit› Edith Maryon, Nachlass Elisabeth Knottenbelt, Privatbesitz; GA K 26b, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2018

Umgang der Eurythmisten mit den Figuren

Der Umgang von Generationen von Eurythmisten mit den Figuren hat sie als Arbeitsinstrumente (5) und Übmittel ausgezeichnet. Steiner selbst nannte sie eine Möglichkeit zum ‹Memorieren› für die lernenden Eurythmisten, auch wenn er dies nur im Nebensatz erwähnt hat. Insbesondere für künsterisch arbeitende Eurythmisten könne durch sie eine Vertiefungsarbeit angefangen werden. (6) Und es liegt auf der Hand, dass diese Figuren, die durch die Vorgaben Steiners geschaffen wurden, Gegenstand der Schulung sind. Doch die Art, wie die Schulung erfolgt, erfordert ein künstlerisches Empfinden.

Einen Hinweis von Steiner für den Umgang mit den Figuren gibt Hans Reipert in ‹Eurythmische Korrespondenz› wieder: Es sei gut, wenn der Eurythmist sich die Fantasie bilde, dass er so (bezogen auf die Angaben zu den Kopfgestaltungen) ausschaue, um eine Veränderung für den Zuschauer erlebbar zu machen. (7) Der Betrachter muss also, wie gegenüber anderen Kunstwerken, seine Wahrnehmung öffnen und steigern, dann kann er nachempfindend zu einem Erlebnis vom Wesentlichen, durch das Kunstwerk, gelangen. Die Schulung erfolgt nicht durch die Information, die die Figuren übertragen, sondern durch einen sinnlich-künstlerischen Prozess, den der Betrachter eingehen kann. So gesehen sind die Figuren wahre Bildungsmittel, die über die Empfindung der Skulptur dem Betrachter ein inneres Erlebnis vom Wesen ein-bilden. Grundvoraussetzung dafür ist, dass es sich um ein Kunstwerk handelt. Dass die Lösung des Problems der Eurythmie als Motiv für die bildende Kunst wiederum ganz künstlerisch geschöpft werden müsse, spricht Steiner aus. So sagt er:

«… [dass die Figuren] in einer gewissen künstlerischen Weise darstellen sollen dasjenige, was eigentlich der Inhalt des Eurythmischen ist. Zunächst sind diese Figuren allerdings mehr bestimmt, eine Grundlage zu geben für die künstlerische Anschauung der Eurythmie. […] Daher wurde hier einmal in einer Art Expressionskunst dasjenige aus dem Menschen herausgeholt, was nur Eurythmie ist, alles andere weggelassen, und man bekommt auf diese Weise nur einen künstlerischen Ausdruck. Denn es ist ja in aller Kunst so, dass man nur mit gewissen Kunstmitteln dasjenige zum Ausdrucke bringt, was eben eine Kunst darstellen kann.» (8)

Einzigartigkeit der Figuren

In der aktuellen Ausstellung von Eurythmiefiguren zeigt sich die Vielfalt der Figuren. Nie findet man zwei gleiche Figuren für denselben Laut- oder Seelenausdruck, trotz der skizzenhaften Vorarbeit Steiners. Farben, Maltechniken, sogar die Flächenverhältnisse variieren. Einzig konstant ist die Umrisslinie, die immer nach demselben Muster ausgeschnitten wurde, in diesem Sinne aber nicht das Zentrale ist. Selbstverständlich hat auch in einigen Fällen die Zeit die Figuren und ihre Farbigkeit verändert, doch an den gut erhaltenen Beispielen zeigt sich die forschende Arbeitsweise. Die Initiatoren der Ausstellung freuen sich, welche «Fülle und Vielfalt an Varianten und experimentellen Entwürfen» bei Maryon und Steiner vorlag, bevor sich ab 1926 die stärker schematisierten Figuren verbreiteten. (9) Dies mag ein Aufatmen für die teilweise verhärteten Diskussionen innerhalb der Szene bringen, überraschend ist es aber eigentlich nicht, wenn man die Figuren gemäß dem Impuls der Schöpfer als Kunstwerke betrachtet. Dann ist es aus der Sache heraus einleuchtend, dass es keine Reproduktionen, sondern nur die Suche nach Stimmigkeit geben konnte. So folgert auch Dino Wendtland, Co-Autor des aktuellen Fotokatalogs, dass diese Variationen verdeutlichen, «dass nicht exakt zu treffende, quasi absolute Farbtöne in gleichbleibender Repetition beabsichtigt waren, sondern dass das Gleichgewicht des Farbdreiklangs stets neu zu suchen und lebendig zu erschaffen ist». (10)

«R», Edith Maryon / Rudolf Steiner, Nachlass Ilona Schubert; Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach, «R» Edith Maryon, Nachlass Rie Lewerenz-Brouwer; Rudolf- Steiner-Archiv, Dornach, «R» Edith Maryon, Nachlass Elisabeth Knottenbelt; Privatbesitz

Radikale Kunstwerke

Beinahe witzig oder paradox erscheinen die Figuren: Als plastische Werke, Skulpturen sind sie für den Raum bestimmt, aber man kann sie nur aus einer einzigen Richtung – nämlich frontal – betrachten. Doch das ist gerade elementar. «Will man irgendetwas eurythmisch festhalten, so muss man aus dem Menschen heraussondern dasjenige, was bloß eurythmisch ist.» (11) Verstehen, was das rein Eurythmische ist und wie Steiner daran die Ausdrucksformen für die Figuren fand, kann man auf umgekehrtem Weg, wenn man den künstlerischen Mitteln in den Eurythmiefiguren genauer nachspürt.

In Steiners Neugriff wirkt nicht mehr die Materie auf die Formgebung, sondern das Material dient nur noch dem Bild. Das bedeutet, die Umrisse und Proportionen folgen nicht mehr der natürlich-physischen Menschengestalt. Die Figur wird in ihrer Flachheit durch die Umrisslinie sowie die Verhältnisse verschieden gefärbter Flächen zueinander hervorgebracht. Hierfür sind die drei Hauptfarben der Darstellung von Bewegung, Gefühl und Charakter als die eurythmischen Grundmittel ausschlaggebend. Ihr Zusammentreffen gibt der Figur ihren Klang. Steiner hat bewusst oder unbewusst hier das Lautlich-Klingende verbildlicht. Der Farbdreiklang macht die Gebärde hörbar-fühlbar.

Die angedeuteten Haltungen, die, wie Hans Reipert von Steiners Ausführungen berichtet, immer nur eine von vielen Varianten eines Lautes zeigten, bilden die Gebärden weniger heraus: «Es kommt demnach nicht darauf an, gerade diese eine Variante besonders zu studieren, sondern das Wesentliche, allen Varianten Gemeinsame herauszulesen.» (12) Der Umriss bestimmt auf andere Art den Ausdruck der Figuren; er ist stilisiert und gar nicht nach den physischen Möglichkeiten der Eurythmisten ausgeführt. Ein weiteres Element der Un- oder Übernatürlichkeit finden wir in der ganz neu gegriffenen Verwendung des Schleiers. Nachdem Steiner Maryon den Weg in die Zweidimensionalität gewiesen hatte, skizzierte sie zunächst auf Papier, jedoch bleibt der Schleier bei ihr stets hängend. (13) Hier zeigt sich der Umbruch: Auch Steiner arbeitet aus der Umrissgestalt heraus, aber der Ausdruck des Schleiers ist frei von Schwerkraft. Er wirkt als umraumgebendes Glied der Figuren und seine Formen werden ganz Bild des Gefühls, nicht der ‹Schleiernutzung› der Eurythmisten.

In die Formgebung spielt auch hinein, dass die Bewegungen nicht in einem Moment erstarrt abgebildet wurden, sondern zum Beispiel in einer Figur gleichzeitig zeigen, was nacheinander in der Bewegungsfolge geschieht. Auch dadurch löst sich Steiner von irdischen Gesetzen. Interessant erscheint noch der geometrisch-mineralische Stil, den Steiner gerade für die Verbildlichung der Eurythmie – der ‹schönen, fließenden Bewegung› – wählt. Denkbar ist jedoch, dass dies der Verstärkung des Eindrucks der Zweidimensionalität, der Flachheit dienlich ist. Wobei spannenderweise eine Verknüpfung zwischen dem Bild des Lebendigen und dem des Physischen entsteht.

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Würden hier Figuren stehen mit schön gemalten Nasen und Augen und schönem Mund, das könnten ja schöne Malereien sein; aber bei der Eurythmie handelt es sich nicht darum, hier ist nur das gemalt und gebildet, was das Eurythmische am eurythmisierenden Menschen ist. … So nützt es auch nichts, hier naturalistische Menschen zu malen, sondern das zu malen, was unmittelbar als Eurythmisches herauskommt.
— (14)

Wohl aus diesem Grund verwirft Steiner an Maryons Vorstudien alles, was noch an eine konkrete menschlich-physische Gestalt erinnert. Der physische Leib ist zwar auch Instrument der Eurythmisten, weil sie nicht ohne ihn Kunst machen können, aber eben nicht nur. Das eigentlich Eurythmische wird nicht auf Grundlage des physischen, sondern des Lebensleibes gestaltet. Die Andeutung der Zweidimensionalität ist dafür zentral. Durch ihre Flachheit fehlt den Figuren das Taktil-Sinnliche, das Skulpturen sonst eigen ist. Man kann sie nicht mit den Augen abtasten, ein Gefühl der Berührung gewinnen, sie sprechen nicht so stark zu unserem physischen Empfinden. Sie werden ganz das Bild der Bewegung, anstatt im Leib geschlossen, eingefroren zu bleiben. Das gelingt Steiner nicht, weil er abstrakt – das hieße zu verallgemeinern oder das eigentlich Spezifische ‹abzuziehen› –, sondern weil er radikal wird, also vom Wesentlichen ausgeht.


B  Rudolf Steiner, Goetheanum Kunst­sammlung, Dornach

B Rudolf Steiner, Goetheanum Kunst­sammlung, Dornach

Jedes Kunstwerk ist ein Bild

Stellt man sich die Frage, wie das Wesen der Eurythmie die Plastik durchdringen oder man eurythmische Gebärden ‹festhalten› kann, steht man vor einem Problem, vor dem jeder Künstler sich befindet: Wie kann übersinnliches Wesen sichtbar werden? Eurythmisch stellt sich der Künstler selbst zur Verfügung, er gibt sein physisch-ätherisches Sein als Werkzeug her, um das Eurythmische sichtbar zu machen. Er gestaltet, was an ihm räumlich-zeitlich ist, aus seinem Seelisch-Geistigen, anhand der Wahrnehmung des Wesentlichen. Sodass er zum Bild der übersinnlichen Wesen wird. Die Eurythmie erscheint durch ihn.

Eine plastische Darstellung von Eurythmie verschärft die Problematik, da sie per se nur räumlich, nicht zeitlich sein kann, das heißt, dass sie mit dem Aspekt des Ewigen, nicht des Lebendigen verbunden ist. Steiner nennt die plastische Kunst auch den «Ausdruck für das menschliche Schweigen, für das Schweigen der Seele in einer bestimmten Form» (15), während Eurythmie die «Offenbarung der sprechenden Seele» (16) sei. Eurythmie auf der Bühne schafft also Bilder von den Urbildern, die Laut- oder Seelenwesenheiten darstellen, von denen Rudolf Steiner mitgeteilt hat. Die Eurythmiefiguren sind wiederum ein Bild davon. Sie sind nicht selbst die Wesen oder die Urbilder, sie verbildlichen mit den Mitteln, die die Plastik bietet, die eurythmischen Elemente. Das Kunstwerk ist ein Schein, ein Bild von etwas anderem; es ist gerade nicht wahr, denn es ist nie das, als was es erscheint. Eine eurythmische ‹B-Figur› ist eben keine bunt bemalte Spanholzplatte. Jedoch sagt uns die Wahrnehmung dieses Bildes oder Scheins etwas über das Wesen, dessen Bild es ist.

Dies ist das Innerste der Kunstwerke: «Nicht jedes Bild ist ein Kunstwerk, aber jedes Kunstwerk ist ein Bild.» (17) Und es ist grundlegend dies zu verstehen, um zu begreifen, wie die Eurythmiefiguren durch Steiner zu Kunstwerken geworden sind, die gleichzeitig den Eurythmielernenden zur Schulung dienen. Wie erwähnt, kann es nicht um Informationen in der Schulung gehen, was die Vielfalt der jetzt ausgestellten Figuren unterstreicht. Vielmehr ist der Lernweg das direkte Eintauchen, die Wahrnehmung des Kunstwerks, die den Betrachtenden verändert, «denn Kunst muss durch unmittelbares Anschauen, durch sich selbst wirken». (18) So findet Steiner, im Gegensatz zu Maryon, die stimmigen Mittel, um die Laut- und Seelengesten in Figuren abzubilden.

Überwindung des Physischen durch das Lebendige

Die radikale Zuspitzung der Stilmittel – hauptsächlich die Flachheit, die Umrissform und der Farbklang – dienen nicht einer Vereinfachung, doch helfen sie dem Bild, zu entstehen. Im Grunde gelingt es Steiner auf diese Art, mit den Mitteln der Plastik die Ewigkeit im Plastischen, dessen Stillstehen, das dem Eurythmischen nicht entsprechen kann, zu transformieren und stattdessen das Zeitwesen, die Bewegung, das Lebendige bildhaft Figur werden zu lassen.


Andacht , Edith Maryon, Nachlass Elisabeth Knottenbelt; Privatbesitz.

Andacht, Edith Maryon, Nachlass Elisabeth Knottenbelt; Privatbesitz.

Warum kann man es für sinnvoll erachten, flache Figuren im Raum aufzustellen; warum arbeitete Steiner nicht direkt nur an Malereien? Hierzu gibt es keine direkte Aussage. Aber es ist denkbar, dass gerade eine flache Plastik, die ich nur von vorn anschauen kann, die dritte Dimension, also das Räumliche und in diesem Sinne das Physische, nicht darzustellen versucht. Die Betonung liegt darauf, dass etwas Nicht-Physisches im physischen Raum erscheint. So wie auch die Eurythmistin auf der physischen Bühne im physischen Leib ihre Darstellung ausführen wird, also zur Sichtbarkeit bringt, aber nicht auf Grundlage der Gesetze dieses physischen Leibes, sondern auf jener ihres ätherischen oder Zeitleibes das Bild des Geistigen offenbart. Eine Konsequenz für die Eurythmiefiguren daraus ist, dass sie raumlos erscheinen wollen, als Bild des reinen Bewegens. In den Eurythmiefiguren überwindet Steiner das Wesen der Plastik mit den Mitteln des Plastischen, so wie die Eurythmie ein Bild der Überwindung des Physischen innerhalb des Physischen – oder des Todes innerhalb der Erdensphäre – ist. «Dadurch durchseelen und durchgeistigen wir den Menschen, bringen das, was im Körper geformt ist, in den Geist hinein, sodass der Mensch in der Eurythmie sich als Seele, als Geist in Wirklichkeit fühlen kann.» (19)


(1) Marie Steiner S. 253; in: Eurythmiefiguren aus der Entstehungszeit, Rudolf Steiner Verlag 2018.
(2) Rex Raab, Edith Maryon, Bildhauerin und Mitarbeit­erin Rudolf Steiners, S. 274, Dornach 1993.
(3) Ebd. S. 275.
(4) Ebd. S. 283.
(5) Beilage zur aktuellen Ausstellung ‹Bewegung, Gefühl, Charakter› im Goetheanum.
(6) Eurythmiefiguren aus der Entstehungszeit, Edith Maryon/ Rudolf Steiner, S. 37, Dornach 2018.
(7) Hans Reipert, Eurythmische Korres­pondenz, Eurythmisten im Gespräch 1952–1958, S. 16, Berlin 2006.
(8) Rudolf Steiner, Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, S. 165 ff., Rudolf-Steiner- Online-Archiv, 2009.
(9) Beilage zur aktuellen Ausstellung ‹Bewegung, Gefühl, Charakter› im Goetheanum.
(10) Eurythmiefiguren …, a.a.O., S. 23.
(11) Eurythmiefiguren …, a.a.O., S. 34.
(12) Hans Reipert, a.a.O., S. 14.
(13) Rex Raab, a.a.O., S. 276 f.
(14) Rudolf Steiner, Die geistig-seelischen Grundkräfte …, a.a.O., S. 159.
(15) Rudolf Steiner, Eurythmie als Impuls für künstlerisches Betätigen und Betrachten, S. 32 f., Dornach 1953.
(16) Siehe GA277.
(17) Zvi Szir, Vortrag ‹Soziale Plastik› an der Freien Sommer-uni­versität der Freien Bildungsstiftung am 1. August 2013.
(18) Rudolf Steiner, Eurythmie als Impuls für künstlerisches Betätigen und Betrachten, S. 31, Dornach 1953.
(19) Rudolf Steiner, Eurythmie als Impuls für künstlerisches Betätigen und Betrachten, S. 21, Dornach 1953.

Coverbild: A, Edith Maryon / Rudolf Steiner, Nachlass Ilona Schubert; Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach

Alle Figuren sind erschienen in: GA K 26b, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2018

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