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Warum nicht Abstraktion?

Abstraktion bedeutet im Wort­ursprung, etwas abzuziehen, zu trennen. Das Werk des Malers Paul Klee geht einen umgekehrten Weg: Er will nicht von der Natur abziehen. Im Hinschauen auf das Geschehen der Schöpfung webt Klee Bilder aus Zeitlichkeit.

Immer wieder, wenn man meint, dass die Wüste leer ist, taucht ein Kamel auf. Nein, das ist keine Metapher über abstrakte Malerei, es ist ein empirisches Erlebnis, auch wenn es fernab ist von einem Naturgesetz. Es gilt wieder über Paul Klees Werk zu schreiben; Anlass gibt die Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel: ‹Paul Klee – Die abstrakte Dimension› vom 1. Oktober 2017 bis 21. Januar 2018. Dieser Text ist nicht über die Ausstellung, aber deren Fragestellung – ‹Die abstrakte Dimension› – öffnet viel mehr als eine Dimension.


Was hat Klees Arbeit zu sagen über die Taten und Leiden der Abstraktion? In welcher Weise führt uns sein Werk näher an das Wesen der Malerei heran, und was lässt sich über den geistigen Aspekt der Abstraktion an Hand von Klees forschendem Werk formulieren?

Kairouan, vor dem Tor

Außerhalb der schönen Stadt Kairouan in Tunesien, die seit 1988 auf der unesco-Liste des Weltkulturerbes steht, da, wo die Stadt gerade nicht ist, in der ‹Noch-nicht-Architektur›, die vor dem Tor liegt, ist das Bild. Es ist außerhalb, durch das Tor ausgeschlossen, dort, wo es noch nichts zu sehen gibt. Natürlich hat sich Klee nie so geäußert; das Bild ist – zuerst und vor allem – gemalt. Das Reflektieren und Erkennen, das Erklingen der Gemälde als Sprache, folgt. Wir reflektieren und bemühen uns, ein wahrer Spiegel zu sein, dem Gemalten seine Stimme zu geben.

Fast nichts ist zu sehen, ein paar Flächen in Braungelb, Violett, hier und da Blau; Teilungen, nur von Tönen und Leere besetzte Farbflächen. Nur in einer viereckigen Region, wie in einem Fenster, in sich wieder verteilt, sind ein halbes Kamel, ein herausfahrender Wagen und die Andeutung dreier Figuren zu sehen. Die Malerei steht vor dem Tor, noch nicht angekommen, ihre Elemente sammelnd und sie von der Welt unterscheidend: Es sind Bausteine, nicht Überreste. Vielleicht, wenn wir durch das Tor kommen würden, vielleicht bildete sich dann etwas, eine Sichtbarkeit, ein ganzes Kamel, eine Stadt. Malen, bei Klee, bedeutet, der Schöpfung immer Momente voraus zu sein; nur dann, vielleicht, wie bei einem erwarteten Sonnenaufgang, gäbe es etwas zu sehen. Nichts ist abstrahiert, nichts vereinfacht, nichts reduziert, alles wird versammelt: die Farben, die elementaren Bausteine der Fläche, der Form, des Raumes, alles, was dem Sehen vorangeht, was das Werden einer Sache ermöglicht, wird versammelt, um vielleicht später, durch das Tor geführt, Neues sichtbar zu machen. Die Wüste, also die Leere, ist nicht das, was bleibt, es geht den Dingen voran, ist Potenz, ein reiner Wille.

Polyphone Strömungen

«Die Lehre von der Gestaltung befasst sich mit den Wegen, die zur Gestalt (zur Form) führen. Es ist die Lehre von der Form, jedoch mit Betonung der dahin führenden Wege», schreibt Paul Klee in seinen Notizen zum ‹Begriff der Gestaltung›.(1) Es gilt also nicht, die Formen analytisch zu entkleiden, um ihr Wesen oder ihre Geheimnisse offenzulegen. Es geht auch nicht darum, im formalen Spiel der möglichen Ordnung zu bleiben. Es soll ein Weg gezeigt werden, der in eine Gestalt führt. Es ist ein Weg, der, gerade weil er die Betonung vom Produkt zu dessen Entstehen verschiebt, das Schöpferische sichtbar macht.

 


Polyphone Strömungen, 1929, 238 Aquarell und Feder auf Papier auf Karton, 43,9 x 28,9 cm, bpk / Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Polyphone Strömungen, 1929, 238 Aquarell und Feder auf Papier auf Karton, 43,9 x 28,9 cm, bpk / Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

 

«Die Kraft des Schöpferischen kann nicht genannt werden. Sie bleibt letzten Endes geheimnisvoll. Doch ist es kein Geheimnis, was uns nicht grundlegend erschütterte. Wir sind selbst geladen von dieser Kraft bis in unsere feinsten Teile. Wir können ihr Wesen nicht aussprechen, aber wir können dem Quell entgegengehen, soweit es eben geht. Jedenfalls haben wir diese Kraft zu offenbaren in ihren Funktionen, wie sie uns selbst offenbar ist.»

Das Bild ist eine Offenbarung der Schöpfungskraft, das Geschehen der Schöpfung als Akt, nicht dessen Ergebnis. Das Malen geht den Sachen nicht nach, sondern voran, es folgt ihnen in der Zeit zurück, um sie neuer, offener und potenzieller zu erschaffen.

Zwei Kräfte weben hierbei gleichzeitig an der Form und in ‹Poly-Richtungen›: die sich verschlingende Linie und die leicht gekrümmten Geraden. Sie bestimmen einander, sie begründen einander bis hier, und dann, nachdem die Krumme die Bewegung der Geraden durchquert, ganz anders. Es ist ein barocker, gefalteter, polyphoner Tanz, in dem Räumlichkeit sich bildet, um sich sofort aufzuheben, indem Geraden Flächen bilden und Flächen ihren Faltungen folgen, um wieder unerklärliche Flachheit zu erzeugen. Es ist die Farbe, scheinbar in Streifen gefangen, die die dynamische Kraft des Bildes hinüberführt – über die Konstruktion hinauf in das Reich der Empfindung, des Tons und der Nähe.

Reduziert, aber reich entfaltete Klee eine Farbigkeit, in der die Farbe als Bindeglied zwischen der formalen Konstruktion und der empfindenden Seele agiert. Es ist kein formales Spiel. Es gibt kein formales Spiel, weil das rein Formale nie formal sein kann: «Die Genesis als formale Bewegung ist das Wesentliche am Werk.» Es ist wie gute Musik, reine Form und Farbe; sie bauen sich nie ein Reich für sich selbst, sie sind immer auf dem Weg – sehr wahrscheinlich in die Stadt, in das Bauen, in das Gestalten von Orten oder Wesen, auf dem Weg zur Schöpfung.

Klee ist ein Gläubiger, er glaubt an den Künstler, an seinen Ort in der ‹Werkstatt der Natur›. Seine Malerei ist nie ‹gegenstandslos›. Wenn es nichts zu sehen gibt, dann ist es nicht nichts, sondern immer noch nicht. Die Gestalt, der Gegenstand, die Natur, an denen der Maler sich orientiert, sind wie eine aufgehende Sonne: immer wieder noch nicht da, und dennoch geht das Licht ihr voran.

Städtische Komposition mit gelben Fenstern

So wie das Pflanzliche Paul Klee als Urort des Wachsens und Welkens dient, so bildet die Stadt den Urplatz des Konstruierens, des Bauens. Die Geometrie, die viereckige Grundgestalt der mineralischen Welt, bildet das Fundament. Sie ermöglicht dem Malenden, die konstruktiven, architektonischen Beziehungen innerhalb des Kraftfeldes des Blattes sichtbar zu ordnen. Sie entschärft und belebt die Tatsache, dass wir auf einem viereckigen, flachen Blatt malen. Sie verwandelt diese Begrenzung in eine Tugend, in ein Prinzip, das eine zweidimensionale Physik vorlegt. Tragen, Stützen, Rutschen, Türme, alle Elemente der Architektur werden in den gewichtlosen Raum des Bildes eingesetzt, oder noch besser gesagt: des Gemäldes, denn das Abbilden ist sekundär, wenn auch wesentlich. Fensterkreuze, absichtlich in leicht glühendem Gelb gesetzt – den Blick gelblich herauswerfend –, sorgen dafür, dass wir uns nicht täuschen: Es gibt nichts dahinten, kein ‹Innen›, keine dritte Dimension hinter dem Fensterkreuz. Im Zimmer ist alles Fläche und dadurch Farbe. Es ist eine tanzende Architektur des zweidimensionalen Raums, in dem die Farbe ihrer architektonischen, stützenden Knochenstruktur das Tanzen beibringt. Die Form ist nichtig, ist nur, fast nur, eine Matrix (wortwörtlich übersetzt: eine Gebärmutter, die Anordnung von Zahlenwerten oder anderen mathematischen Objekten in Tabellenform). Die Geometrie gibt eine vorgegebene Ordnung, die der farbigen ‹Unlogik› widerspricht. Es ist wie eine Wissenschaft des Unwissenschaftlichen, der einmaligen Empfindung, eine experimentelle Praxis unwiederholbarer Experimente. Es ist ein Versuch, den Farben im Rahmen einer sich wandelnden Ordnung – wortwörtlich eines Kosmos –, in der sie vielfältige Beziehungen als einmalige Empfindungsmuster hervorbringen, nachzuspüren. Ja, irgendwo in der Gesamtausgabe sagt Rudolf Steiner, dass das Geistige nur durch Paradoxien angesprochen sein kann.

 


Städtische Komposition mit gelben Fenstern, 1919, 267 Gouache auf Büttenpapier auf Karton, 29,5 x 22,3 cm, Ulmer Museum, Ulm

Städtische Komposition mit gelben Fenstern, 1919, 267 Gouache auf Büttenpapier auf Karton, 29,5 x 22,3 cm, Ulmer Museum, Ulm

 

 

1 Alle Zitate aus: ‹Paul Klee: Das Bildnerische Denken›, Schwabe & Co. AG Verlag, Basel 1990

Titelbild: Aquarell und Bleistift auf Papier, 13,5 x 22 cm, Moderna Museet, Stockholm

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