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Die Sinneswelt zwischen Tasten und Ichen

Die einzelnen Sinne arbeiten differenziert und vielschichtig. Anhand der Notiz­bucheintragungen und späteren Ausarbeitungen Rudolf Steiners kann man sehen, wie er die Sinneswissenschaft fortwährend weiterentwickelte.


Rudolf Steiner berücksichtigt bereits 1910 im ‹Anthroposophie›-Fragment Tast- und Ich-Sinn, indem deren Sonderrolle als Grenzen des Sinnesspektrums hervorgehoben und viel ausführlicher behandelt werden als in den späteren Übersichten der zwölf Sinnesbereiche ab dem Jahr 1914.

Von einem ‹Ich-Sinn› für ein fremdes Ich ist im zweiten Kapitel von ‹Anthroposophie› noch nicht die Rede. Das ‹Ich› wird aber sogleich zu Anfang des dritten Kapitels thematisiert und spielt im weiteren Verlauf des unvollendeten Werkes eine zunehmend größere Rolle, bis schließlich das sechste Kapitel ganz dem ‹Ich-Erlebnis› als verschiedenartige intentionale Beziehungen gewidmet ist. Beim «sogenannten Tastsinn» strahlt das Ich «seine eigene Wesenheit bis zu der Berührungsstelle mit dem äußeren Gegenstande und lässt nach Maßgabe der Berührung dann diese eigene Wesenheit in sich zurückkehren. Die zurückstrahlende eigene Wesenheit bildet den Inhalt der Tastwahrnehmung.» Rudolf Steiner zufolge «tastet» der wahrnehmende Mensch auch durch andere Sinne, allerdings nicht mehr ab dem Hörsinn und den darüberliegenden sogenannten «sozialen» Sinnen.


Notizbuch 500 von Rudolf Steiner – Rudolf­ Steiner­Archiv

Notizbuch 500 von Rudolf Steiner – Rudolf­ Steiner­Archiv

Im Notizbuch 210 findet sich zum Hören und Sprechen eine längere Abhandlung, in der geschildert wird, was als «Typus eines Wahrnehmungsorgans betrachtet werden» kann, nämlich die einzigartige Gabe des Ich-Organismus, «in sich das Bild eines gleichen fremden Ichs gegenwärtig machen» zu können. Steiner führt diese Betrachtungen dann hin zum «Mysterium des Mitgefühls mit einem fremden Ich» durch das Hineinleben des eigenen Ich in den Laut des fremden Ich: «Vernimmt er dann den Laut des fremden Ich, so lebt das eigene Ich in diesem Laut und damit in dem fremden Ich. […] Das kann aber nichts anderes bedeuten, als dass der Hörende beim Laut eines Menschen sein Ich an ein fremdes Ich hingibt, beim Ton eines leblosen Gegenstandes nur an den Ton selbst.» Weiter notiert Steiner: «Die Erfassung eines fremden Ich setzt ein Organ voraus, welches keinen physischen Inhalt in der Wahrnehmung hat (bloße Kraftwahrnehmung): den Ichorganismus.»

Im Notizbuch 500 aus der Zeit um die Entstehung des Fragments von 1910 schreibt Steiner: «Tastsinn: alles Urteil. Ichwahrnehmung: nichts Urteil.» Bei Tast- und Ich-Sinn handelt es sich um Grenzfälle, die man auch als zwei Grundgesten mit mehr prinzipiellem Charakter ansehen kann: beim Tastsinn das Ausstrahlen des eigenen Ich bis an eine Grenze, die lediglich das eigene Ich zurückspiegelt («alles Urteil»), beim Ichsinn die uneingeschränkte Hingabe an ein fremdes Ich («nichts Urteil»). Dazwischen liegen zehn Sinnesbereiche mit jeweils andersartigen intentionalen Ich-Erlebnissen.

Im achten Vortrag zur ‹Allgemeinen Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik› beschreibt Rudolf Steiner am 29. August 1919 das «Vibrieren der Seele» zwischen der «Hingabe an den anderen» und dem «innerlichen Wehren» als Grundgeste des Ich-Sinns und verweist darauf, dass er diesen Sinn auch in der Neuauflage seiner ‹Philosophie der Freiheit› eigens charakterisiert hätte. Tatsächlich beschreibt er in der Neuauflage hauptsächlich das «Vibrieren der Seele» als Grundgeste des Denksinns, während er im Notizbuch 210 aus dem Jahre 1910 das Hineinleben in den Laut des anderen Menschen beschrieben hatte. Beim Zuhören eines anderen Menschen hebt Steiner in dem Text aus Notizbuch 210 hervor, dass hierbei das «andere Ich […] an die Stelle des eigenen» tritt. Somit durchzieht das «Vibrieren der Seele» offenbar auch die Bereiche des Denk- und Lautsinnes. Im erster Anhang zur ‹Philosophie der Freiheit› aus dem Jahre 1918, auf den Steiner in dem oben erwähnten Vortrag bezüglich des Ich-Sinns hinweist, heißt es dementsprechend, dass in dem Prozess des Zuhörens bei der Hingabe an das Fremde «die Trennung zwischen den beiden Bewusstseinssphären tatsächlich aufgehoben» wird. So wird die zwischenmenschliche Kommunion in anthroposophischer Beleuchtung beschrieben.

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