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Ich habe alles aus dem inneren Ohr gelernt

40 Jahre lang prägte Josef Gunzinger (1920–1989) das Musikleben am Goetheanum, das damals blühte: eine reiche Konzerttätigkeit, häufig mit großen Orchestern, viele Bühnenwerke und Eurythmie­aufführungen mit seinen Kompositionen und 1959/60 die Mysteriendramen. Zum 100. Geburtstag ein Gedenken an ihn.


Josef Gunzingers musikalischer Weg begann mit Beethovens 9. Symphonie, die er auf einer Schallplatte der Mutter entdeckte. Auch der Zugang zum Musikstudium wurde ihm, der erst als 15-Jähriger mit Klavierstunden begonnen hatte, durch ein Beethoven-Stück ermöglicht, das er dem bekannten Komponisten und Musikpädagogen Hermann Scherchen vorspielte, der ihn daraufhin in seinen Dirigierkurs aufnahm. Er begleitete Scherchen auf Konzertreisen durch ganz Europa und erhielt zwischen den Auftritten Privatlektionen in Komposition und Musiktheorie. Danach absolvierte Josef Gunzinger ein reguläres Musikstudium, zunächst am Konservatorium in Bern und dann in Basel.

Als Kapellmeister hat er bis auf eine alle neun Symphonien Beethovens einstudiert. Am Ende seines Lebens plante er, sie alle am Goetheanum aufzuführen – ein ehrgeiziges Projekt –, und erwog sogar, dafür seine Dornacher Villa zu verkaufen. In der Nacht vor seinem Tod schrieb er in einem Brief an einen befreundeten Musiker: «Je mehr ich mich mit Beethoven auseinandersetze, je mehr muss ich mich überzeugen, dass dieser Titan noch längst nicht ausgeschöpft ist. Nicht einmal von künstlerisch-technischer Seite her, noch viel weniger von der menschlichen. Ich habe das sichere Empfinden, dass es fast einem Verbrechen gleichkommt, wenn ich nicht weitergebe, was ich zu geben habe.»

Der Weg zur Anthroposophie

Josef Gunzinger wuchs im Solothurner Uhrendorf Welschenrohr als einziger Sohn eines wohlhabenden Uhrenfabrikanten auf. Seit Generationen war die Firma im Familienbesitz gewesen und selbstverständlich sollte Josef jr. die Tradition weiterführen. Aber nach der Handelsschule führte die Begegnung mit dem erwähnten Hermann Scherchen dazu, dass er den schon als Jugendlicher gefassten Entschluss, Musiker zu werden, in die Tat umsetzte. Die Mutter hatte durch die Werke Albert Steffens den Weg zur Anthroposophie gefunden, was zu einer Entfremdung des Ehepaares führte und schließlich dazu, dass der Vater für Frau und Sohn in Dornach die Villa Dornrös­chen erwarb, wo Gunzinger nach dem frühen Tod der Mutter bis zu seinem Umzug nach Hawaii 1980 lebte. 1947 schloss Gunzinger sein Musikstudium (Waldhorn, Klavier, Pauke) mit dem Diplom in Basel ab. Vermutlich sein erstes öffentliches Konzert war die Aufführung seiner Chorkantate ‹Fahrt bei Nacht im Winterwald …› (Text A. Steffen) am 26. Dezember 1946 im voll besetzten Schreinereisaal.

 


Josef Gunzinger mit einem Orchester im Freien.

Josef Gunzinger mit einem Orchester im Freien.

 

Zusammenarbeit mit der Eurythmie

Im folgenden Jahr ertönte Gunzingers erste Eurythmiemusik an einer Aufführung während der Michaelitagung: ‹Musik für Streicher, Flöte und Horn zum Schwanengesang des Notker Balbulus›. Dies war der Beginn von Gunzingers lebenslanger kreativer, fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem Eurythmie-Ensemble am Goetheanum sowie weiteren Ensembles in Deutschland und in seinen letzten Lebensjahren in den usa. Viele Jahre lang hatte er sich intensiv mit Eurythmie beschäftigt. 1952 entstand die ‹Symphonische Entwicklung I, Saturn›. «Dem Zustandekommen dieses Werkes lag eine glückliche Schicksalsfügung zugrunde. Zwei Menschen trafen sich mit ihrer inneren Sehnsucht nach einer Kunstform, durch welche die den Menschen lange verborgenen Göttertaten wieder sichtbar und hörbar werden können. Die Eurythmistin Annemarie Dubach-Donath (1895–1972) fand in ihrem Schüler Josef Gunzinger den geeigneten Komponisten für ihren Versuch, die Taten der Götter in den Urzeiten des Alten Saturn musikalisch begleitet eurythmisch auf die Bühne zu bringen. […] Was mit Worten kaum gesagt werden kann, wurde in 20 Minuten erlebbar.» (Johannes Greiner).

Neue Verbindungen

Gunzinger suchte nach Wegen, die drei Kunstgattungen Dichtung, Musik und Eurythmie zu verbinden und neue musikalische Pfade zu betreten. Immer wieder fand er engagierte Künstlerinnen und Künstler für ungewöhnliche Projekte. Ein solches Projekt (1970) beschreibt der Musiker Felix Lindenmaier: «[…] und so trafen wir uns dann spätabends auf der Empore des Großen Saals zur ersten Probe. Dort hingen an mehreren hohen Gestellen die Gongs, die wir mit großen weichen Hämmern anschlugen. Mit einer gewissen Technik konnte man erreichen, dass die Gongs voll und rund anklangen und dann noch lange nachschwangen, sodass man – wenn man mehrere Gongs nacheinander anschlug – ein Ineinanderschwingen der Töne wie bei einem Glockengeläute erhielt, je nach den gewählten Tönen mehr oder weniger konsonant oder dissonant. Einzeltonfolgen – also klare, unverwischte Melodien – mussten hingegen durch sorgfältiges rechtzeitiges Abdämpfen erzeugt werden. Das Stück war in freier, nicht exakt bemessener Rhythmik komponiert, entsprechend diesem Nachklingen der Instrumente, und es kam mehr auf das gegenseitige Reagieren der Spieler an, wann der rechte Moment für den nächsten Ton war. Bei der Einstudierung war Gunzinger eine wunderbare Mischung von Sachlichkeit, spontaner Herzlichkeit, Konzentration und fast kindlich naiver Entdeckerfreude.»

Seinem Ziel des Zusammenwirkens der Künste am Goetheanum folgte Gunzinger in besonderem Maße in den Kompositionen zu den Mysteriendramen. Rund 20 Jahre lang wurden die Dramen mit seiner Musik aufgeführt.

 


Josef Gunzinger im Mercedes.

Josef Gunzinger im Mercedes.

 

Verwandlung des Bösen

Von 1977 bis 1979 hatte Gunzinger die Leitung der Sektion für Redende und Musizierende Künste inne. Seine Hoffnung, viele seiner künstlerisch-musikalischen Ideen in dieser Funktion verwirklichen zu können, erfüllte sich nur teilweise. Zu Beginn hatte er im ‹Rundbrief› geschrieben: «[Die Kunst] ist ein moderner Weg, der zu lebendiger Erkenntnis führt. Auf diesem Weg steht die Begegnung mit dem Bösen bevor. Der gewöhnliche Mut hilft hier nicht weiter und auch für einen Schlagetot oder einen Frömmler sind die Zeiten vorbei. Es gilt das Böse in sich aufzunehmen, es dann selbst zu gestalten. So verstehen wir, dass Rudolf Steiner an Jan Stuten mit dem Vorschlag herantrat, das Wesen der Furcht zu komponieren. In der heutigen Kunst ist ja kein Mangel an Erzeugnissen, die das Satanische auf die Menschheit loslassen. Warum wirken sie kränkend, krank machend? Sie sind ungeformt, weil der Künstler sich scheut, durch Geistesübung und Moralität das Erkennen des Bösen zu vertiefen. Leicht ist es, das Böse unverarbeitet zu zeigen, sehr schwer jedoch, es so zu gestalten, dass in dieser Gestaltung selbst der Weg zur Überwindung gewiesen ist […] Die Verwandlung des Bösen [ist] eine michaelische Wahrheit. Hier liegen die wunderbaren Möglichkeiten der goetheanistischen Kunst. Die Verwandlung ist ihr Schwert.»

Noch einmal neu

1979 erlitt Gunzinger einen Herzinfarkt und entschied sich in der Folge nochmals zu einer ganz neuen Herausforderung: Er zog mit seiner Familie nach Hawaii und übernahm dort die Leitung des Maui Symphony Orchestra. Seine Orchesterleitung und die Konzerte wurden von den Musikern ebenso wie von den Zuhörern begeistert aufgenommen. In seinem Haus mit Aussicht über den Ozean richtete er ein rege besuchtes anthroposophisches Zentrum ein. Kurz vor seinem Tod am 23. Juni 1989 ließ er das London Symphony Orchestra einige Werke für eine CD einspielen, deren Fertigstellung er nicht mehr erlebte. Seine Konzerte durften nie aufgenommen werden. Er selbst besaß weder Radio und Fernsehen noch Plattenspieler. Und nie bereitete er sich auf ein Konzert vor, indem er aufgezeichnete Versionen der Werke anhörte: «Ich bin dankbar, dass ich alles ohne Aufnahmen gelernt habe. Es gibt dir viel mehr Kraft, wenn du das alles in deinem inneren Ohr lernen musst. Du musst dir den Klang des Orchesters vorstellen. Es gibt dir einen Reichtum, wie du ihn durch das Anhören einer Platte nie bekommen kannst.»

Über die Kunst des Dirigierens schrieb er: «Echte klassische Musik geht direkt in die Seele des Zuhörers. Sie fordert ihn heraus. Der Dirigent muss wissen – aus seiner Intuition, durch seine Erfahrung, in seinem Herzen –, wie Musik die Zuhörerschaft erreichen kann. […] Ein Musikstück verändert sich, muss sich verändern, denn es ist dafür geschrieben, die Seele zu berühren, und die Seele wandelt sich und wächst.»


Information Aus Anlass des 100. Geburtstages dieses um eine erweiterte Tonkunst ringenden Musikers war am 9. Mai 2020 am Goetheanum eine Veranstaltung geplant. Diese Jubiläumsfeier mit Chor und Orchester muss verschoben werden. Das neue Datum wird sobald wie möglich bekannt gegeben.

 


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Angelika Feind, Suche nach den Quellen der Musik. Josef Gunzingers Leben und Werk, Verlag am Goetheanum 2020. ISBN 9783723516331

Titelbild: Josef Gunzinger am Ozean.

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