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Welches Bewusstsein haben Pflanzen?

Über einen Paradigmenwechsel in der Botanik, der unser Weltbild verändern könnte.


Darwin legte vor 140 Jahren das Gehirn der Pflanze in die wachsende Wurzelspitze: «Es ist kaum übertrieben, zu sagen, dass die Spitze der Keimwurzel, die auf diese Weise [mit Sensibilität] ausgestattet ist und die Fähigkeit besitzt, die Bewegungen der angrenzenden Teile zu lenken, wie das Gehirn eines der niederen Tiere wirkt; das Gehirn sitzt im vorderen Ende des Körpers, nimmt Eindrücke von den Sinnesorganen auf und lenkt die verschiedenen Bewegungen.» Dieser Gedanke, von Wissenschaftlern damals abgelehnt, erlebt eine Renaissance. Einige Wissenschaftler gewöhnen sich gerade an die Vorstellung von ‹Sinnen›, ‹Verhalten› und ‹Gedächtnis› von Pflanzen, während andere Forschende Wörter wie ‹Lernen›, ‹Verstehen› und ‹Intelligenz› bei Pflanzen bestenfalls als ‹unangemessen›, schlimmstenfalls als eklatante Überinterpretation von Daten, als Teleologie, Anthropomorphismus oder wilde Spekulation verspotten. Die Verwendung der Sinnesdefinition Rudolf Steiners, wonach ein menschlicher Sinn den Menschen dazu veranlasst, «das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in der physischen Welt zu versetzen berechtigt ist» (GA 45, S. 23), lässt Fragen an die Gleichsetzung der Sinnestätigkeit von Mensch und Tier – womöglich sogar von Pflanzen – ganz neu stellen.

Im Experiment

Die Tierökologin Monica Gagliano schockierte die Botanikwelt mit Experimenten mit empfindlichen Mimosenpflanzen (farnartige Blätter, die sich bei Berührung sofort zusammenfalten). Sie und ihre Kollegen ließen sie sechzigmal wiederholt etwa 15 Zentimeter tief auf eine gepolsterte Oberfläche fallen. Sie stellten fest, dass einige der Mimosen ihre Blätter bereits nach vier, fünf oder sechs Fallversuchen kaum mehr schlossen, als hätten sie entschieden, dass der Reiz sicher ignoriert werden könne. Am Ende blieben sie alle völlig offen (veröffentlicht 2014). In einem Experiment mit gewöhnlichen Erbsenpflanzen (Pisum sativum) zeigten Gagliano und ihr Team, wie Pflanzenwurzeln Richtung Wassergeräusch hinwuchsen, künstliche Geräusche aber vermieden. Weitere Versuche im behavioristischen Reiz-Antwort-Geist des Sinnes- und Lernbegriffes erfolgten: Es wurde gezeigt, dass die Spitzen der Pflanzenwurzeln nicht nur Schwerkraft, Gezeiten, Mondlicht, Feuchtigkeit, Licht, Druck und Härte, sondern auch Volumen, Stickstoff, Phosphor, Salz, verschiedene Giftstoffe, Mikroben und chemische Signale von benachbarten Pflanzen wahrnehmen. Wurzeln können erkennen, ob es sich bei den nahe gelegenen Wurzeln um eigene, verwandte oder fremde Wurzeln handelt. Obwohl Pflanzen normalerweise mit Fremden um den Wurzelraum konkurrieren, haben vier eng verwandte Meerespflanzen (Cakile edentula), die in einem Topf stehen, ihr übliches Konkurrenzverhalten eingeschränkt und Ressourcen geteilt. Die Pflanzen sammeln und integrieren also Umweltinformationen und ‹entscheiden› dann genau – einige Wissenschaftler setzen die Anführungszeichen ein, was auf eine Metapher bei der Arbeit hinweist; andere lassen sie fallen –, wohin sie ihre Wurzeln oder Blätter wachsen lassen.

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Pflanzen sammeln und integrieren also Umweltinformationen und ‹entscheiden› dann.

Kommunikationssysteme

Sobald sich die Definition von ‹Verhalten› erweitert und Aspekte wie eine Verschiebung der Bahn einer Wurzel, eine Neuzuweisung von Ressourcen oder die Emission einer starken Chemikalie einschließt, beginnen Pflanzen wie viel aktivere ‹Agents› (= mit freiem Willen ausgestatte, handelnde Wesen) auszusehen, die auf Umwelteinflüsse in einer Weise reagieren, die subtiler oder anpassungsfähiger ist, als es das Wort ‹Instinkt› erlauben würde. Einige Wissenschaftler behaupten, dass dieses pflanzliche Kommunikationssystem ähnlich wie das Nervensystem von Tieren funktioniert (Pflanzenneurobiologie mitsamt Synapsen). Bäume können sowohl elektrische Impulssignale unterirdisch als auch Signale über die Luft, über Pheromone und Gase, aussenden. Wenn ein Tier zum Beispiel beginnt, an den Blättern eines Baumes zu kauen, kann der Baum Ethylengas in den Boden abgeben, wodurch andere Bäume alarmiert werden, woraufhin diese in der Nähe befindlichen Bäume Gerbstoffe in ihre Blätter senden können, sodass sie, wenn auch ihre Blätter gekaut werden, das störende Tier vergiften können.

Pflanzen, so schloss Monica Gagliano, könnten ein weitaus größeres Empfindungsvermögen haben, als wir jemals für möglich gehalten hätten.(1) Das Leben von Pflanzen, die sich ‹erinnern›, dass sie fallen gelassen werden, und ‹entscheiden›, dass es sicher ist, auch wenn sie sich nicht schützen, lässt sich mit anthropomorphen Begriffen zwar nicht am besten ausdrücken, aber wir haben noch keine andere Sprache. In Wahrheit wissen wir so wenig über uns selbst: Unsere Wissenschaft vermag nicht einmal menschliches Lernen und Erinnern zu erklären. Warum sollte man nicht bedenken, dass Pflanzen schon viel länger als wir dasselbe tun, mit einer Intelligenz, die sich radikal von der unseren unterscheidet?


(1) A. G. Parise, M. Gagliano & G. M. Souza, Extended cognition in plants: is it possible? Plant Signaling & Behavior Bd. 15, 2020.

Zeichnung: Constanze Auerbach

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