Ohne Honorar und Manager – Warum Vögel singen?

«Liebe ist, wenn man Tag und Nacht singen möchte. Ohne Honorar und Manager.» Dieses Zitat stammt angeblich von Frank Sinatra, dem amerikanischen Sonnyboy und Chansonnier, bei dessen Namensnennung der Ohrwurm ‹New York› nahezu unvermeidlich in unsere Seele dringt.


Sich erheben

Wo sich Liebe regt im Leben, «da vernimmt man den Zauberhauch des die Sinneswelt durchdringenden Geistes.» «Die Liebe ist ein Erleben des andern in der eigenen Seele», so Rudolf Steiner.(1) Man ist erfüllt, durchdrungen von einem anderen Wesen, und das macht einen singen. Und wenn man singt, dann ist man gehobener Stimmung, man hat sich über den Alltag hinausgehoben bzw. erheben lassen.

Was dem Menschen so seelisch-geistig geschieht, das vollziehen die Singvögel leiblich. Sie steigen auf die Höhe ihrer Singwarte (und darüber hinaus zum Singflug), wo es aus ihnen heraustiriliert! Und ihr Gesang ist ansteckend, nicht nur für andere Vögel, sondern auch für uns! Wie erhebend wirkt doch auch für uns Menschen die Frühlingsstimmung im Morgengesang der Vogelwelt im aufsteigenden Jahr!

Der Weltbefreier

Was macht uns und die Vögel denn da so erhoben? Was macht die Vögel und uns singen? Was erfüllt so durch und durch, dass die Liebe aufzusteigen beginnt? Der Dichter Theodor Fontane formulierte das so: «Der Frühling kam, der Weltbefreier, / Die Erde lebt und grünt und blüht, / Am Himmel keine Wolkenschleier, / Und ohne Wolken das Gemüt. / Die Vögel und die Menschen singen, / Und wie die Lerche himmelwärts, / Will sich empor zur Gottheit schwingen / Im Dankgebet das Menschenherz. / O Herz! Es brach die Frühlingssonne / Des Winters Ketten wohl entzwei, / Wohl ziemt der Erde Dank und Wonne; / Doch bist auch Du von Ketten frei?» (Theodor Fontane, ‹Frühlingslieder›, II). Etwas also, was uns zugleich erfüllt und erhebt, was uns mit neuem Leben umspielt, ein Weltbefreier, die Gottheit – das macht uns und die Vögel singen.

Jedem seinen Himmel

In den Wochensprüchen von Rudolf Steiners ‹Seelenkalender› heißt es zur Johannizeit: «Erkennen wirst Du einst, / Dich fühlte jetzt ein Gotteswesen» beziehungsweise «Verlieren kann das Menschen-Ich / und finden sich im Welten-Ich.»(2) Der Mensch steigt auf in den Weltengeist, in den seinem Wesen zugehörigen inspirierenden Himmel. Nichts anderes macht auch die Natur: Jede Blume, jede Vogelart steigt dorthin auf, wo es sie auf ihre Weise blühen oder singen macht. Alle werden von einem jeweils zugehörigen Wesen inspiriert, zum Blühen oder zum Singen gebracht.

Vom göttlichen Ideal zum irdischen Idol

Wie war das doch gleich? Wo sich Liebe regt im Leben, «da vernimmt man den Zauberhauch des die Sinneswelt durchdringenden Geistes». «Die Liebe ist ein Erleben des andern in der eigenen Seele.» Indem wir uns erheben, werden wir von einem höheren Wesen durchdrungen. Wen wundert’s, wenn man schließlich vor lauter – sprichwörtlicher – Begeisterung sein göttliches Ideal in einem irdischen Pendant zu sehen glaubt. – Ja, deshalb singen wohl auch Vögel im Frühling – ohne Honorar und Manager.


Hans-Christian Zehnter, Warum singen Vögel? Zocher & Peter Verlag, 2018. Bald auf Niederländisch: ‹Waarom zingen vogels?›, Uitgeverij Pentagon, Amsterdam

Walther Streffer, Heimische Singvögel. – Wie, wann und wo sie singen? Freies Geistesleben, 2019.

Arnulf Conradi, Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung Verlag Antje Kunstmann, 2019.


(1) Rudolf Steiner, Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17, Kap. ‹Von dem Ich-Gefühl und der Liebefähigkeit der menschlichen Seele und deren Verhältnissen zur elementarischen Welt›.
(2) Aus den Wochensprüchen Nr. 10 und 11.

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