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Zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft unterscheiden

Eine weitere Rezension des Buches von Renatus Ziegler ‹Geist und Buchstabe›. 


Rudolf Steiner hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass seine beiden Ausgaben von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (in der Kürschner’schen ‹Deutschen Nationalliteratur› und in der Weimarer ‹Sophien-Ausgabe›) nicht der Arbeitsweise entsprechen, wie nach Meinung der historisch-kritischen Philologie eine solche Herausgabe hätte erstellt werden müssen. Bekanntlich war es Rudolf Steiners Absicht, Goethes naturwissenschaftliche Schriften und die im Nachlass vorgefundenen Texte so anzuordnen, dass durch die Anordnung der Zusammenhang und der Inhalt von Goethes Ideen, so weit wie nur irgend möglich, gesteigert hervortritt. Demgegenüber betrachtet es die herkömmliche Philologie bis heute als ihre Aufgabe, die Texte ihrer zeitlichen Entstehung nach anzuordnen. Die Auseinandersetzung, die Rudolf Steiner darüber im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar mit dessen Direktor Bernhard Suphan zu führen hatte, sind bekannt. Schließlich konnte Rudolf Steiner Bernhard Suphan von seiner eigenen inhaltlich begründeten Anordnung überzeugen.(1) Suphan blieb aber nicht der Einzige. Auch andere Mitarbeiter an der Sophien-Ausgabe – Karl von Bardeleben, zuständig für Osteologie, sowie der für Kunstschriften zuständige Geisteswissenschaftler Otto von Harnack – folgten Rudolf Steiners Konzeption (S. 130–131). Aus Zieglers Arbeit geht auch hervor, dass Rudolf Steiners Herausgabe in der Kürschner’schen Nationalliteratur in Fachkreisen große Anerkennung erfuhr. Diese Anerkennung war ja auch der Grund, warum er als kompetent befunden wurde, in der Weimarer Ausgabe Goethes naturwissenschaftliche Schriften herauszugeben.

Renatus Ziegler nimmt nun in dieser Frage eindeutig Stellung. Er pflichtet jenen Rezensenten bei, die Rudolf Steiners Arbeitsweise für bedauernswert unprofessionell, das heißt nicht sachgemäß halten. Demgegenüber taucht für den Leser, der denkend am Inhalt eines Buches Interesse hat, doch die Frage auf: Wie begründet denn die Philologie ihr Paradigma, dass Texte ihrem zeitlichen Erscheinen nach anzuordnen sind und nicht ihrem inhaltlichen Zusammenhang nach? In seinem letzten Projekt, der Herausgabe von Goethes Sprüchen in Prosa in der Kürschner’schen Ausgabe, nimmt Rudolf Steiner dazu Stellung: «Ich hoffe, ein Bild der Persönlichkeit Goethes, so weit sie sich in diesen Sprüchen darlegt, durch meine Ausgabe geliefert zu haben. Auf philologische Nachweise bezüglich des Ursprungs und der Entstehung einzelner Aphorismen habe ich verzichtet. Ich habe mich nie davon überzeugen können, dass durch solche Nachweise zur Erkenntnis einer wirklich großen Persönlichkeit etwas beigetragen wird. Man gewinnt nichts für die Erkenntnis Goethes, wenn man weiß, dieser oder jener Gedanke, der uns bei ihm begegnet, kommt auch schon da oder dort vor. Die Zusammenfassung der Einzelheiten seines Wesens zu einem Bilde seiner Persönlichkeit scheint mir das Wichtige.» (S. 219)

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Man gewinnt nichts für die Erkenntnis Goethes, wenn man weiß, dieser oder jener Gedanke, der uns bei ihm begegnet, kommt auch schon da oder dort vor. Die Zusammenfassung der Einzelheiten seines Wesens zu einem Bilde seiner Persönlichkeit scheint mir das Wichtige.

Weder auf die Berechtigung der historisch-kritischen Methode und damit auf die Begründung seiner Kritik noch auf die Begründung, die Rudolf Steiner gegen diese anführt, geht Ziegler ein. Es scheint dem Autor zu genügen, dass er sich mit seinem Urteil im Mainstream der konventionellen Universitätsphilologie befindet.

Nun wurde weder von Ziegler noch von anderen Kritikern an Rudolf Steiners Herausgabepraxis bisher berücksichtigt, was Goethe selbst 1826 für die Herausgabe seiner naturwissenschaftlichen Schriften bestimmt hat. «Was für Naturwissenschaft geleistet worden, soll in einigen Supplementbänden nachgebracht und besonders darauf gesehen werden, dass einmal der Sinn, mit welchem der Autor die Natur im Allgemeinen erfasst, deutlich hervortrete […]»(2) Rudolf Steiner hat also nichts anderes getan, als dem Auftrag Goethes über die Herausgabe seiner Schriften Folge zu leisten. Damit berühren wir die Frage der Autorenrechte gegenüber der Philologie. Ein Blick in die Leopoldina-Ausgabe, die Ziegler als den Maßstab für eine Philologie ‹lege artis› zitiert, zeigt hier Erstaunliches. In den dortigen Editionsrichtlinien von 1958 steht zu lesen, dass die Texte Goethes «in der Leopoldina-Ausgabe in der letzten von Goethe schaffend gestalteten Form eines Werks, ohne Rücksicht auf Korrekturen, die er oft in großem zeitlichen Abstand und unter andersartigen Bedingungen als Redakteur und Revisor seiner eigenen Werke vorgenommen hat, wiederzugeben sind» (S. 214). Sie haben richtig gelesen! Der Autor Goethe wird als Gestalter seiner eigenen Texte also von dieser Philologie als nicht mehr zuständig in den Anmerkungsteil verwiesen! In der Anbetung der Papiere und ihrer Datierung hat der Autor sein Recht verloren! Diese willkürliche Anmaßung philologischer Deutungshoheit, die von Ziegler kommentarlos zitiert wird, argumentiert auch hier ohne sachlichen Boden mit der Zeit der physischen Fixierung. Würde Ziegler den Unterschied berücksichtigen zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, den Rudolf Steiner in den ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› zur Erläuterung seiner Goethe-Ausgabe bei Kürschner in einem eigenen Kapitel darlegt, so könnte er dieser Philologie nicht kritiklos huldigen. Wer diese Unterscheidung kennt, der weiß, dass die konventionelle Philologie nichts anderes tut, als die Prinzipien der Naturwissenschaft in die Geisteswissenschaft hinein fortzusetzen, auch dort, wo sie methodisch unmöglich sind. Da werden Papierschichten wie paläontologische Gesteinsschichten ihrer Zeit nach geordnet in der Meinung, man könne wie in der Evolutionsbiologie dadurch eine Entwicklung begreifen! Rudolf Steiner stellte demgegenüber völlig zu Recht fest, dass die zeitliche Erscheinung von Texten häufig vom Zufall bedingt und für den inhaltlichen Kontext oft nicht relevant ist.

Wer so wenig auf das vom Inhalt her begründete Verfahren Rudolf Steiners eingeht und auf eine kritische Begründung der eigenen Haltung verzichtet, der kann sich dann auch angesichts der bekannten Verzögerungen Rudolf Steiners in der Ablieferung an seinen Vorgesetzten Suphan zu der Behauptung versteigen: «Steiners seelische Entwicklung war zu dieser Zeit noch nicht auf der Höhe seiner geistigen Intentionen» (S. 208).


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Noch gravierender ist die Kritik Zieglers an Rudolf Steiner dort, wo er ihm vorwirft, ab Band zwei der Kürschner’schen Ausgabe führe Rudolf Steiner mit seinen Einleitungen nicht zu Goethe hin, sondern er entwickle seine eigenen weltanschaulichen Fragen (S. 146 u. 168). Dieser Vorwurf wurde schon von Jutta Hecker in ihrer ersten Auflage ‹Goethe in Weimar› im Goetheanum-Verlag zu Beginn der 80er-Jahre gemacht. Rudolf Steiners eigene Auffassung in dieser Sache war diese: «Das Wesen des Erkennens wurde damals von meinen Zeitgenossen in einer Art dargestellt, die nicht an Goethes Anschauung herankommen konnte. Die Erkenntnistheoretiker hatten die Naturwissenschaft, wie sie in jener Zeit war, vor Augen. Was sie über das Wesen des Erkennens sagten, galt nur für das Erfassen der anorganischen Natur. Es konnte keinen Zusammenklang geben zwischen dem, was ich über Goethes Erkenntnisart sagen musste, und den gebräuchlichen Erkenntnistheorien der damaligen Zeit. Ich fand: Es gibt für die Goethe’sche Erkenntnisart keine Erkenntnistheorie. Dies führte mich dazu, den Versuch zu machen, eine solche wenigstens andeutungsweise auszuführen. Ich schrieb meine Erkenntnistheorie der Goethe’schen Weltanschauung aus einem inneren Bedürfnis heraus, bevor ich daranging, die weiteren Bände der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes zu bearbeiten.» (S. 185) Dies wird von Ziegler zwar zitiert; da er sich aber mit Rudolf Steiners Rechtfertigung nicht auseinandersetzt, fehlt seiner Kritik die Begründung. Wir wissen, dass Rudolf Steiner, um zum Beispiel Goethes Idee des Typus vor dem damaligen Erkenntnisstand der Naturwissenschaft zu rechtfertigen, dieser Naturwissenschaft zunächst einmal den Anteil des Denkens und dessen Rolle im Erkennen der Natur klarmachen musste. Naturwissenschaftler hatten generell weder zu Rudolf Steiners Zeiten, noch haben sie heute ein besonderes Interesse daran, den Anteil, den das Denken am Erkenntnisprozess empirischer Tatsachen hat, wissenschaftlich genau ins Auge zu fassen – denn das wäre Geisteswissenschaft. Also musste Rudolf Steiner in seiner Kürschner-Ausgabe, um «zu Goethe hinzuführen», die Zeitgenossen erst in die Lage versetzen, Goethes Denkweise zu begreifen. Dass dies zur Entwicklung einer Philosophie führte, die später in die Anthroposophie bruchlos überging, kann ja nicht den Vorwurf begründen, Rudolf Steiner habe statt Goethe-Einleitungen seine Anthroposophie entwickelt.

‹Geist und Buchstabe›-Autor und -Verlag haben nicht bemerkt, auf welche Seite sie mit diesem Buch geraten sind. Wenn Rudolf Steiner im Verständnishorizont dieses Buches gearbeitet hätte, dann gäbe es den Rudolf-Steiner-Verlag nicht.

Gegenwärtig treten die Kulturimpulse des Goetheanismus, der sich zum Goetheanum entwickelt hat, auf der ganzen Welt in die Phase ihrer 100-jährigen Jubiläen ein. Dieses Jahr ist es die Waldorfpädagogik, 2020 die Medizin. Der Rudolf-Steiner-Verlag hätte die Chance gehabt, darzustellen, dass Rudolf Steiners Ausgaben von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in ihrer Anordnung, ihren Einleitungen und ihren Kommentaren die Grundlegung dieser Kulturbewegung sind.

Armin Husemann


(1) Kurt Franz David, Rudolf Steiners Bearbeitung von Goethes ‹Naturwissenschaftlichen Schriften› und die gegenwärtigen Editionen, in: Das Goetheanum, 1982, Band 61, S. 66 f.
(2) J. W. Goethe, Gesamtausgabe der Werke und Schriften in 22 Bänden. Cotta, Stuttgart 1959, Band 18, S. 9. Es handelt sich um seine veröffentlichte Ankündigung der Ausgabe letzter Hand.

Bild: Hanfpflanze, Teil des Herbariums von Goethe


Renatus Ziegler, Geist und Buchstabe. Rudolf Steiner als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Rudolf-Steiner- Verlag, Dornach 2018.

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