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Briefe, die ihn nicht erreichten … Elisabeth von Heyking

Am 1. Mai 1903 schrieb Luise von Schulenburg (geb. von Sobeck, 1834–1913), Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, an Rudolf Steiner: «Es liegt mir noch besonders am Herzen, Sie recht bald einmal hier zu sehen, da dann noch eine sehr liebe Bekannte von mir (Baronin Heyking, geb. Gräfin Flemming), eine Enkelin von Bettina von Arnim, die eben aus Mexiko zurückkehrte, zu mir kommen möchte.


Ich hatte ihr von Ihren Büchern nach Mexiko gesandt und sie ließ sich, da sie ihr so zusagten, noch mehreres davon kommen und würde nun so gern Ihre Bekanntschaft machen. Ich weiß gar nicht genau, wie Frau von Heyking speziell zur Theosophie steht, aber sie ist eine innerlich hoch entwickelte Seele, ohne kleinliche Vorurteile, der Ihre Beurteilung von Nietzsche und die Klarheit Ihrer Auffassungen so besonders sympathisch waren, sodass ich denke, diese Bekanntschaft wird nicht nur der Baronin, sondern auch Ihnen, lieber Herr Doktor, angenehm sein. Wenn Herr von Heyking Zeit hat, kommt er vielleicht auch, und da dies Ehepaar nur noch kurze Zeit hier ist, so möchte ich Sie bitten, Sonntag oder Montag zu wählen, d. h. wenn es geht. Nachmittags von 4 bis 6 hat Frau von Heyking am ersten freie Zeit […].» (1)

Offenbar fand der Besuch Rudolf Steiners statt, denn die Gräfin schreibt ihm am 13. Mai: «Ich hoffe aber auch, dass die Bekanntschaft des Ehepaares von Heyking Ihnen angenehm gewesen ist, vielleicht nützlich sein kann.» Elisabeth von Heyking gedachte der Begegnung mit Rudolf Steiner in ihrem Tagebuch mit ein paar wenigen Worten: «Auch Dr. Steiner sahen wir, den Theosophen und Biografen Nietzsches. Ein interessanter Mensch, äußerlich sehr seltsam, Fanatiker und Märtyrerphysiognomie.» (Tagebücher aus vier Weltteilen, Kap. 11)

Elisabeth von Heyking, geb. von Flemming, im selben Jahr geboren und gestorben wie Rudolf Steiner (1861–1925), schaute schon damals, als sie ihm 1903 begegnete, auf ein bewegtes Leben zurück. Sie stammte – wie Gräfin von der Schulenburg im Brief andeutet – mütterlicherseits aus der Familie Brentano, denn ihre Mutter war eine Tochter von Achim und Bettina von Arnim (geb. Brentano). Das hochbegabte junge Mädchen heiratete 19-jährig den Nationalökonomen Stephan Gans Edler zu Putlitz. Die Ehe wurde nicht glücklich, und als die junge Frau sich in einen Studienkollegen ihres Mannes verliebte, Edmund von Heyking (1850–1915), kam es zur Tragödie: Ihr Mann erschoss sich. Ihr Schwiegervater nahm ihr daraufhin ihre kleine Tochter weg – und sie musste das Sorgerecht für ihr Kind gerichtlich einklagen.

Elisabeth und Edmund von Heyking heirateten 1884. Es kam ihnen gelegen, nach dem gesellschaftlichen Skandal Deutschland verlassen zu können. Baron von Heyking wirkte als Diplomat – Konsul, Generalkonsul und Gesandter – im Dienst des deutschen Kaiserreiches jeweils drei bis vier Jahre in Chile, Indien und Ägypten. 1896 bis 1899 lebte das Ehepaar in China; Elisabeth von Heyking wurde als erste europäische Frau am dortigen Kaiserhof zugelassen. Bereits in dieser Zeit begann sie zu schreiben. Das nächste Land, in das ihr Mann berufen wurde, war Mexiko. Dort verfasste Elisabeth von Heyking das Buch, das sie berühmt machen sollte, aber – aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung – anonym erscheinen musste: ‹Briefe, die ihn nicht erreichten …›. Wie der Titel schon andeutet, besteht das Werk aus einer Reihe von Briefen einer Frau – geschrieben in Kanada, usa und Deutschland – an den fernen Geliebten in China, der die Briefe jedoch nie erhält, da er in den Wirren des Boxeraufstandes ums Leben kommt. In diesen Briefen werden die gesellschaftlichen Zustände der Zeit, vor allem aber die Kolonialpolitik kritisch beleuchtet. Aus der heutigen Perspektive ist besonders erstaunlich, was über Amerikas Intentionen in Bezug auf die Weltpolitik ausgeführt wird. Auch die Schilderungen über das koloniale Leben in China und den Boxeraufstand sind aufschlussreich.

Das Buch erschien 1903 und erlebte im ersten Jahr 46 Auflagen – der größte Bucherfolg jener Zeit. In diesem Jahr der Erstpublikation begegnete die Autorin also Rudolf Steiner, von dem sie in Mexiko einige Bücher studiert hatte. Wahrscheinlich infolge dieser Begegnung kam es zu einem Vortrag Rudolf Steiners über Elisabeth von Heykings Buch – bei einem literarischen Nachmittag in der Fortbildungsschule für ‹höhere Töchter› von Anna Peltesohn am 19. November 1903. Aber es muss wohl noch einen zweiten Vortrag über das Buch gegeben haben, jedenfalls schreibt Hedwig Denekamp, – damals Schülerin dieser Schule und spätere Anthroposophin: «Beim zweiten Vortrag über dieses Buch erschien auch die Verfasserin selbst mit ihrem Mann (Baronin Heyking) und stellte sich Frl. Peltesohn vor. Diese frug dann Dr. Steiner nach Ablauf seines Vortrages noch, zu ihr in ihr Zimmer zu kommen, und stellte Dr. Steiner der Verfasserin vor, woran sich ein sehr interessantes Gespräch knüpfte.» (Brief an C. S. Picht vom 19.12.1928) – Vorgestellt musste Rudolf Steiner dem Ehepaar jedoch nicht mehr werden, da sie sich ja schon im Mai 1903 bei Gräfin von der Schulenburg begegnet waren.

1907 wurde Edmund von Heyking krankheitshalber in Ruhestand versetzt. Ein Jahr später fand das Ehepaar in Schloss Crossen an der Elster, das Elisabeth von Heyking von ihrer Tante geerbt hatte, endlich das ersehnte Zuhause. Doch nur noch wenige gemeinsame Jahre waren ihnen vergönnt. Im Ersten Weltkrieg, den beide schon lange hatten heraufziehen sehen, fielen ihre beiden Söhne in Frankreich. 1915 starb auch Edmund von Heyking. Zehn Jahre später ereilte Elisabeth von Heyking – als sie ihre Tochter aus erster Ehe, Stephanie von Raumer, in Berlin besuchte – auf dem Weg zur Kutsche ein doppelter Schlaganfall. Der Schriftsteller und Journalist Paul Lindenberg (1859–1943) schrieb später über sie: «Niemand konnte sich dem Zauber dieser seltenen Frau entziehen. In keiner Weise legte sie es darauf an, zu gefallen oder Aufmerksamkeit zu erregen. Sie war zurückhaltend in vornehmer Ruhe, ihre Sprache hatte einen schwingenden, musikalischen Klang. Nur der aufmerksame Beobachter empfand das starke Innenleben dieser Frau, die nur wenigen einen Blick in ihr Inneres gestattete, das in ihren Büchern zu tiefem Ausdruck gelangte. Ihr Leben war ein Roman, von Jugend an, und von Jugend an führte sie, die reich Begabte, ein Doppelleben: Hier die Frau der großen Welt, die Gattin eines Diplomaten, internationaler Verkehr, gastliches Haus, weite Reisen, dort die Stille, Insichgekehrte, die sich wenig aus dem ‹rauschenden Weltplunder› machte, für dessen Narrheiten sie bloß ein leichtes Lächeln übrig hatte.» (2)


(1) Der Brief befindet sich im Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach.
(2) Paul Lindenberg, Es lohnte sich, lange gelebt zu haben. Erinnerungen. Berlin 1941, S. 75.

Über ihr Leben siehe auch: Herward Sieberg, Elisabeth von Heyking – ein romanhaftes Leben. Hildesheim u. a. 2012.

Bild: Porträt der Schriftstellerin Elisabeth von Heyking, Museum Schloss Moritzburg, Zeitz

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