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Wir leben ewig

Nach einem Dreivierteljahr Probenzeit präsentiert die Junge Bühne unter Leitung der Regisseurin Andrea Pfaehler dem Publikum ihre neue, mittlerweile fünfte Produktion in zehn Aufführungen am Goetheanum.


Die Geschichte entfaltet sich an vier großen Abgründen und Aufbrüchen der letzten 80 Jahre: dem Nationalsozialismus, der Geburt des amerikanischen Way of Life, dem Arabischen Frühling und der Gegenwart. Immer geht es dabei um Flucht und Heimatlosigkeit. Weil ‹Heimat› und ‹Flucht› eine Innen- und eine Außenseite haben, sich in der Gesellschaft und in der Seele abspielen, pendelt die Erzählung zwischen den Polen des lauten Lebens, in dem getanzt und gesungen wird, und dem inneren Leben, in dem gesucht und geliebt wird. Eine zu Herzen gehende Sterbeszene, wie man sie aus Schlussakten kennt, komponiert Andrea Pfaehler ins erste Drittel. So liegt unter allem folgenden Spaß des Stückes die Erinnerung an das Tragische. Wie doppelbödig das sprudelnde Leben ist, das wird so zum Erlebnis. Schon in der Eröffnungsszene begegnet uns ein Wehrmachtsoffizier, an dem diese Seiten von Innen und Außen, von Pflichterfüllung und Liebe zerren.

Andrea Pfaehler schildert, dass sie das Stück und seine Rollen aus den mitspielenden Jugendlichen gewonnen habe. Tatsächlich scheint dieses Pendel von Außen und Innen, von Fassade und Echtheit kein Lebensalter so elementar und überzeugend spielen zu können wie die jungen Leute. In dieser Lebensspanne sind diese Pole des Lebens besonders rein greifbar. Das gilt auch für die einfache, beinahe holzschnittartige Sprache, die Andrea Pfaehler für das Stück gefunden hat. «Der Krieg macht Ungeheuer aus uns – hör auf dein Herz!», ruft die Widerstandskämpferin Ella. «Wer nicht träumt, der stirbt», flüstert der ägyptische Aufständische. Was bei älteren Schauspielern schlicht klingen könnte, vermag hier zu überzeugen und zu ergreifen. Was heißt es, so fragte ich mich beim Besuch der Proben, solche dramatischen Momente der jüngeren Geschichte mit jugendlichen Spielern auf die Bühne zu bringen? Gewöhnlich wird das, was geschehen ist, aus historischer Distanz und Reife erzählt – eine Sache des Alters. Jetzt erzählt aber die Jugend. Was dadurch fehlt, ist die innere Weite, ist der Überblick, was aber gewonnen wird, wenn sich junge Spieler in die Zeit versetzen, das ist die Zukunftskraft, die in diesen Umwälzungen liegt – also das Werdende in der gewordenen Geschichte.

 


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Eine Prüfung, die alle zusammen schreiben

Im Gespräch mit den Spielerinnen und Spielern

«Was waren denn bedeutende Momente in der Probenzeit?», frage ich die 19 Jugendlichen des Ensembles. Maria beschreibt, dass sie vor allem berühre, wie ihre Mitspielerinnen und -spieler sich entwickeln, wie sie die Rolle ergriffen und wie die Rolle dann ‹ihre› Rolle werde. «Da bin ich dann stolz auf meine Mitspieler!» Eine andere Spielerin betont, dass es sie so beeindrucke, wie eine Szene wachse und wachse, gerade wenn man sie eine Zeit lang nicht gesehen habe. Da gebe es eine Eigendynamik im Spiel, die sie beeindrucke. Michael, einer der Spieler, der schon Jahre dabei ist: «Am Anfang ist noch wenig da, keine Kostüme, keine Musik, und auch wir Spieler sind unsicher. Dann kommt eins nach dem anderen hinzu und dann gibt es diesen magischen Moment, an dem die Szene zu leben beginnt und uns plötzlich etwas trägt.»

Auf die Frage, mit welchen Widerständen sie zu kämpfen hätten, antwortet Lukas, der einen amerikanischen Entertainer spielt: «Eine solch übertriebene Show zu spielen, mich und alles zu vergessen, war für mich eine heftige Aufgabe.» Um so schöner sei es gewesen, den Schwung zu erleben, der einen dann beflügelt, und sich ihm anzuvertrauen. «Bis dieser Moment kommt, ist es eine harte Arbeit», ergänzt er. Michael, der einen Wehrmachtsoffizier spielt: «Je emotionaler ich in die Rolle hereingehe, desto größer ist bei der nächsten Probe diese Schwelle, jetzt wieder einzutauchen, denn ich weiß, was mich da erwartet, was mir das alles abverlangt.» Ludowika, auf der Bühne die Freundin eines Widerstandskämpfers: «Dieses starke Gefühl, als wir zum ersten Mal die Sterbeszene spielten, das hat mich so gepackt, dass ich noch auf dem Weg nach Hause weinen musste. In der nächsten Probe konnte ich es dann aber nicht mehr so auf die Bühne bringen. Das war dann ein längerer Weg, bis es wieder gelang.» Sangita, die ein geflüchtetes Mädchen von heute spielt: «Zu erleben, dass die Geschichte, die ich erzähle, ‹meine› Geschichte ist, das hat mich ganz schön berührt.» Und Sabine: «Man lernt nicht nur am eigenen Weg, sondern auch an dem der anderen, an deren Schwierigkeiten. Das schweißt solch eine Gruppe zusammen.»


Von jedem ein Foto auf dem Schreibtisch

Im Gespräch mit Andrea Pfaehler

Andrea Pfaehler Im letztjährigen Theaterlager besprach ich mit den Jugendlichen die Fragen «Woher komme ich, warum bin ich da, wo lebe ich, was ist meine Aufgabe?» Da dachte ich zuerst an Parzival. Dann begann ich mit den Fragen der Jugendlichen zu leben und eine Geschichte zu schreiben, wobei ich für jeden der 19 Jugendlichen seine Rolle entwarf, die ‹aus› ihm und weniger ‹für› ihn entsteht. Mit den Fotos von allen auf dem Schreibtisch habe ich dann letzten Herbst geschrieben. Die Jugendlichen haben so die Geschichte mitgeschrieben. Jetzt, wo es auf der Bühne erscheint, ist das Stück mir erstaunlich fremd und ich könnte mich fragen, wer es eigentlich geschrieben hat. Es ist ein seltsames Erlebnis. Als wir im Ensemble über die Rollen sprachen und darüber nachdachten, wer kann was lernen, habe ich doch einige Rollen umbesetzt. Einige waren unglücklich mit ihrer Rolle und das waren genau jene, die wir umbesetzt haben. Da war wohl schon im Schreiben eine Verbindung.

Das Stück ist von scharfen Wechseln geprägt – buntes Leben und dann Verlassensein und Einsamkeit.

Ja, bei diesem Wechsel von Gesellschaft und Innenleben kam es mir darauf an, dass so sichtbar wird, in welchem Zusammenhang dieses Innenleben wurzelt. Da ist am Anfang das Fest der Nazis und dann geht der Blick in die Seelen von vieren hinein und es zeigt sich das Innenleben. Bei den Proben haben wir dann erlebt, dass diese Innenseite sich in den verschiedenen Welten, die wir entfalten, gar nicht so unterscheidet. Die Gefühle sind dieselben, auch wenn die Welt draußen ganz anders ist. Damit hängt wohl zusammen, dass es den Jugendlichen gar nicht schwerfiel, sich in die Kriegsjahre zu versetzen. Die Sterbeszene von Orell und Ludowika am Ende des ersten Aktes haben die beiden beim ersten Mal so ergreifend gespielt, dass wir weinen mussten. Der Zugang zu diesem Schmerz fällt ihnen so leicht, dass wir ahnen können, was in heute heranwachsenden Seelen alles zuhause ist. Die Leichte und Verstellung der Szenen in den usa war viel schwieriger zu inszenieren. Dort ist die Welt ja in Hochglanz und doch hat da dieser eine Mensch die gleichen Identitätsprobleme wie in den Wirren des arabischen Frühlings im dritten Akt. Ob in der Nazizeit, dem amerikanischen Aufbruch oder dem aufbrechenden Islam, immer geht es uns um die Freiheitsfrage.

 


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Worin liegt die besondere Herausforderung?

Dass wir keinen Klassiker spielen. Ein Klassiker ist auf so vielen Bühnen gespielt, mit so vielen Mündern gesprochen worden, da ist jede Zeile reif. Unsere Vorlage dagegen ist frisch gebacken. Das verlangt eine andere Anstrengung, denn der Text gibt nicht so viel her. Man muss sehr ins Schauspiel hinein, damit etwas entsteht.

Und doch beginnt ihr erst im letzten Drittel der Proben, die Szenenfolge durchzuspielen.

Ja, wir fangen sehr klein an und trainieren über Monate Körpergefühl und Sprache, üben Improvisation und Tanz. Das ist für die Jugendlichen mühsam, und erst in den letzten Wochen sehen sie die Frucht der langen Vorbereitung. Denn jetzt müssen die Szenen nur ein paar Mal gespielt werden, und schon sitzen sie. Man vergisst, wie schwer das ist. So kennen sich die Jugendlichen ja nun gut und spielen dann auf der Bühne, als würden sie sich zum ersten Mal begegnen. Andere spielen auf der Bühne ein Paar – auch das ist in diesem Alter keine leichte Übung. Mich berührt dabei, dass sie hier nie albern werden, sondern sich ernsthaft um den Ausdruck bemühen. Dabei trägt die Gemeinschaft, die sich über die Monate bildet und die das Theaterspiel hier auf eine völlig andere Ebene hebt, als es sie bei Klassenspielen gibt.

Ist die Arbeit da eher mit einer Schauspielschule verwandt?

Ja, wie wir die Sprachführung, die Artikulation und die Gedankenführung schulen, wie wir Tanz und Mimik üben, das ist Unterricht wie an der Schauspielschule und vielleicht sogar darüber hinaus, denn zum Zauber dieses Alters gehört wohl, dass man ernst arbeiten kann, ohne mit sich selbst beschäftigt zu sein. Das wird ab 20 erst mal schwieriger.

Du bist mit Klassenspielen beschäftigt, die Inszenierung des ‹Faust› am Goetheanum ist ein überragendes Projekt. Welchen Stellenwert hat dabei die Junge Bühne?

Einen hohen, weil hier mit der Unterstützung des ganzen Teams etwas Einmaliges möglich ist: Ernst und Freude im Spiel sind in den jungen Menschen so natürlich miteinander verbunden, dass sich dadurch oft etwas Höheres, etwas so nicht Erwartetes ereignen kann. Das sind Augenblicke, da geht der Himmel auf.


Aufführungen: Am 31. August, 1., 7., 8., 21. und 22. September um 19.30 Uhr, am 2., 9. und 23. September jeweils um 16.30 Uhr, Goetheanum Grundsteinsaal.
www.junge-buehne.ch

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