Zuschrift

Zuschrift von Wolfgang Rißmann zur Diskussion über den Beitrag von Joachim Bauer ‹Was Beziehung bedeutet und Sprache bewirkt› im ‹Goetheanum› Nr. 27/28


Die gegenwärtige Entwicklungspsychologie und Neurobiologie versteht unter dem Begriff des ‹Selbst› eine Zusammenfassung aller Phänomene des Selbsterlebens und nicht das von Rudolf Steiner beschriebene ‹Geist-Ich›, das von Inkarnation zu Inkarnation schreitet: «Mit dem Begriff des Selbst bezeichnet man die Inhalte des Wissens oder der Annahmen, die das Individuum über die eigene Person entwickelt, und die kognitiven Prozesse, durch die dieses Wissen hervorgebracht wird.»* Bereits in der Theosophie spricht Steiner ebenfalls davon, dass das Bewusstsein vom ‹Selbst› erst mit drei Jahren geboren wird. Gemeint ist hier also das Selbstbewusstsein und nicht das Geist-Ich. Denn dieses tritt nicht in die irdische Inkarnation ein und bleibt in der geistigen Welt. Das Selbstbewusstsein und damit das Selbst bildet sich in der kindlichen Entwicklung langsam an der leiblichen und seelischen Hülle aus, ist also bei Geburt noch nicht vorhanden (vgl. auch Vortrag v. 4.11.1910, GA 115, S. 196–201).

Joachim Bauer untersucht die neurobiologischen Spuren des Selbst und nicht das Geist-Ich an sich. Er führt aus, dass der Prozess der Selbstwerdung nicht aus der Materie aufsteigt, sondern nur durch menschliche Beziehung, also durch seelisch-geistige Einwirkung, sich vollziehen kann. Daher haben wir eine so große Verantwortung in der frühkindlichen Erziehung. Wir erleben heute, dass immer mehr Menschen an Traumafolgestörungen, Borderline-Störungen und anderen durch ungute frühkindliche Einwirkungen entstandenen seelischen Krankheiten leiden. Das Anliegen von Joachim Bauer ist, dafür aufzuwachen und die Erziehung im ersten Jahrsiebt wieder menschengemäß zu gestalten. Insofern besteht kein Gegensatz zwischen den Aussagen von Rudolf Steiner und denen von Joachim Bauer.


* Schneider W., Lindenberger U.: Entwicklungspsychologie. Beltz 2018. S. 560

Der Artikel von Joachim Bauer können Sie hier lesen.

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