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Ich bin unsicher, also bin ich

‹Wir üben Unsicherheit›, hieß die Tagung der Assoziative Drei zu Eins zwischen Weihnachten und Neujahr am Goetheanum. 50 junge Menschen waren dabei.


Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer mich darauf aufmerksam machte, dass Gehen ein unglaublich fragiler, herausfordernder Prozess ist: Um vorwärtszukommen, muss ich meinen sicheren Stand aufgeben und in die Unsicherheit des Anhebens eines meiner Beine gehen. Indem ich mein Bein vom Boden abhebe, verliere ich mein vormals gefundenes Gleichgewicht und muss es neu finden – mit jedem Schritt aufs Neue.

Erst im Moment jedoch, in dem mein Fuß Luft unter die Sohlen bekommt, bin ich frei; bin ich fähig, mich nach vorne zu bewegen. An dieser Erfahrung, die ich im Alltag unterbewusst mache, kann ich aufwachen zu der Erkenntnis, dass Neues nur in dieser Infragilität geboren werden kann.

Ich setze mich in meinem alltäglichen Leben selbst hundertfach freiwillig dieser Unsicherheit aus, ohne es zu merken – und ohne Angst davor zu haben. Mit jedem Schritt erschaffe ich einen kleinen Raum, in dem ich Zukünftiges einlade, sich mit mir zu verbinden. Trotz dieses Bewusstseins fühlte ich mich wie vor einem tiefen Abgrund, als ich zum ersten Mal mein Wort an die große Teilnehmergruppe richten wollte. Mein Herz pochte nervös. Ich atmete langsam ein und erinnerte mich daran, dass wir alle eine tiefe Unsicherheit in uns tragen. In diesem kollektiven Zulassen und Aushalten von Unsicherheit eröffnete sich ein Raum, der weit über die Grenzen des Tagungsgebäudes hinausleuchtete. Ich erlebte eine Qualität, die ich selten je erfahren habe. Es bildete sich eine Art ‹sacred space›, ein heiliger Raum, in dem sich wahrhaft Neues entfalten konnte. Ich hatte das Gefühl, dass sich eine Art Netz zwischen den Teilnehmenden spannte, dass sowohl eine verbindende als auch eine freilassende Kraft innehatte.

Aus diesem lichten Raum heraus, der sich über mich legte wie ein Mantel aus Geborgenheit, konnte ich mich vertrauensvoll in die ganze Weite meiner Unsicherheit fallen lassen. Ich erlaubte meinem Ich, sich mit all seinen Unzulänglichkeiten, Schwächen und Eigenheiten zu zeigen. Schritt für Schritt ging ich meiner Unsicherheit entgegen; zuerst zaghaft nur und jede Vorwärtsbewegung behutsam abwägend, dann immer schneller und bestimmter, bis ich bei ihr ankam. Ich stand ihr mit meinem ganzen unvollkommenen Wesen gegenüber. In ihr erkannte ich mein Menschsein. In ihrem Blick spiegelten sich zugleich meine Fehler und meine Fähigkeiten, mein Weg zu den Sternen hin.

«Unsicherheit gibt mir die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zum Menschen zu sein», sagte ein Tagungsteilnehmer in der Schlussrunde. Tiere wissen, was sie zu tun haben, wie sie leben sollen. Es ist ihnen durch die Instinkte von Natur aus gegeben. Ein Roboter muss den ihm einprogrammierten Befehlen Folge leisten. Als Mensch dagegen bin ich freigestellt: Ich kann tun und lassen, was und wie ich will, und gebe dafür Schutz und Sicherheit als Opfergabe dar. Es ist diese Freiheit, die mich irren, die mich ringen lässt. In ihr fühle ich mich lebendig. Es wird immer deutlicher, dass Unsicherheit eine Gabe, ein Geschenk ist, das uns Menschen – und nur uns – in dieser Form gegeben ist. In der Unsicherheit kann ich neue Dinge an mir entdecken, wenn ich nur bereit bin, richtig hinzusehen. Wenn ich unsicher bin, bin ich ganz auf mich zurückgeworfen – ich gehe in die ‹Kraft des Unbetretenen›, wie Ernst Bloch es in seinem Werk ‹Das Prinzip Hoffnung› schreibt. Meine Unsicherheit ist die Brücke zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Außen, die ich überqueren kann, wenn ich mutig bin. Am anderen Ufer angekommen, kann ich bemerken, dass der Abgrund unter meinen Füßen bloß der Boden war, der mich zu mir selbst trug.

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