Impfpass: Ein Weg in die Freiheit oder in die geschlossene Gesellschaft?

Organisierte, jedoch nutzlose Freiheitsberaubung? Um die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen, wurden seit Frühjahr 2020 gesamtgesellschaftliche Zwangsmaßnahmen verhängt, die Grundrechte beschneiden, zum Beispiel durch Reglementierung der sozialen Kontakte, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Verbote, bestimmte Berufe auszuüben usw. Diese Maßnahmen bestehen bis heute, April 2021, in vielen Ländern in mehr oder weniger scharfer Form fort. Der Ausweg aus diesem Lockdown zurück zur Freiheit soll in einer Impfung der großen Mehrheit der Bevölkerung bestehen. Dieser Artikel argumentiert dafür, dass das ein Trugschluss ist.


Es geht nicht um einen Weg zurück zu Freiheit und Rechtsstaat, sondern um einen Weg hin zu einer ‹neuen Normalität›. Das ist ein Weg in eine geschlossene Gesellschaft, der irreführend als Ausweg in die Freiheit dargestellt wird. Tatsächlich handelt es sich um die Zementierung der Freiheitsberaubung – nur nicht mehr durchgesetzt durch die Gewalt von Lockdowns, sondern durch die süße Versuchung sozialer Zertifikate in Form von Impfpässen.

Rufen wir uns zunächst einige Fakten in Erinnerung. Pandemien wie die Ausbreitung des gegenwärtigen Coronavirus hat es häufig gegeben – zuletzt in Europa in ähnlicher Größenordnung bezogen auf die Bevölkerungsgröße die Asien-Grippe 1957 und die Hongkong-Grippe 1968/69. Bis zum Jahr 2019 war es Stand der Wissenschaft, dass man Pandemien einer solchen Größenordnung rein medizinisch bekämpft mit Fokus auf den Schutz der gefährdeten Personen und mit allgemeinen Hygieneempfehlungen wie Abstand halten, Hände waschen usw. Gesamtgesellschaftliche Zwangsmaßnahmen wie Lockdowns wurden zwar auch schon früher erwogen, aber als unvernünftig und unverantwortlich abgelehnt.

Im Frühjahr 2020 fand ein Strategiewechsel statt. Es wurde von den Regierungen auch der westlichen Demokratien entschieden, die Coronapandemie nach dem Vorbild Chinas mit politischen Zwangsmaßnahmen zu bekämpfen. Das Ziel war und ist, die gesamte Gesellschaft durch die Pandemie zu steuern mit einer politischen Reglementierung des sozialen Lebens bis hinein in den engen Familienkreis. Im Rahmen des normalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Entscheidungsverfahrens lassen sich solche Maßnahmen nicht herbeiführen. Wissenschaft sollte daher zu ihrer Legitimation herhalten. Allerdings war es von Anfang an offensichtlich, dass die epidemiologischen Fakten nicht zur Begründung dieses Strategiewechsels dienen können. Denn diese Fakten liegen in derselben Größenordnung wie in den genannten früheren Pandemien.

Damit die Wissenschaft dennoch diese Legitimation leisten kann, wurde der Versuch unternommen, sie politisch zu steuern – durch ihre Organisationen wie Akademien wie zum Beispiel die Leopoldina, die deutsche nationale Akademie der Wissenschaften, und durch einzelne Wissenschaftler, die bereit waren, sich für diese politische Verwendung zur Verfügung zu stellen und sich in Politik und Medien als die Sprachrohre der Wissenschaft präsentieren zu lassen. Sie sollten suggerieren, dass die in der Wissenschaft übliche Debatte dieses Mal gar nicht stattfindet, weil sie nicht stattfinden darf, damit die Strategie der wissenschaftlichen Legitimation politischer Zwangsmaßnahmen aufgeht. Wenn man diese Debatte zugelassen hätte, wäre dieser Strategie der Boden entzogen worden. Denn Politikerinnen und Politiker können ja nicht entscheiden, welche Seite in einer wissenschaftlichen Debatte recht hat.

So wurden diejenigen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen diffamiert, welche die traditionelle, rein medizinische Vorgehensweise wie in früheren Pandemien vergleichbarer Größenordnung empfahlen, statt dass ihnen mit Argumenten begegnet wurde. Nun kann es selbstverständlich sein, dass es neue Erkenntnisse gibt und neue, bessere Handlungsmöglichkeiten und dass einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Fortschritt abwehren. Aber es kann nicht sein, dass jeder, sobald sie oder er den Wechsel von einer medizinischen zu einer politischen Strategie der Pandemiebekämpfung kritisiert, ihr oder sein wissenschaftliches Urteilsvermögen verloren hat. Das ist Diffamierung mit dem Ziel, politische Zwangsmaßnahmen wissenschaftlich legitimieren zu können. Man macht damit aus der Wissenschaft eine Art Staatsreligion, die nicht nur naturwissenschaftliches, sondern auch moralisch-normatives Wissen zur Lenkung der Bevölkerung hat und aus der abweichende Stimmen gleichsam als vermeintlich ketzerisch ausgeschlossen werden müssen, um diesen Anspruch aufrechterhalten zu können.

Inzwischen wissen wir jedoch, dass diejenigen, welche die traditionelle, rein medizinische Bekämpfung der Coronapandemie empfahlen, richtig lagen. Zahlreiche Studien weisen nach, dass politische Repressalien wie Lockdowns in den westlichen Demokratien keinen statistisch signifikanten Unterschied in der Bekämpfung der Coronapandemie ergeben.1 Das kann man so veranschaulichen: Man legt Personen die relevanten Daten zum Infektionsgeschehen wie Krankenhauseinweisungen und Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung aus Ländern mit ähnlicher geografischer Lage und wirtschaftlicher Entwicklung über eine längere Zeitspanne hinweg vor. Anhand dieser Daten lässt sich nicht ersehen, welche dieser Länder scharfe politische Maßnahmen wie einen Lockdown mit der Anordnung, zu Hause zu bleiben, ergriffen haben und welche nicht.2 Ein Beispiel ist der Vergleich zwischen Deutschland und Schweden ab Mai 2020, nachdem Schweden die anfänglichen Versäumnisse im Schutz der Alters-und Pflegeheime in den Griff bekommen hatte: Zwischen Schweden ohne Lockdown und Deutschland mit Lockdown gibt es seit Mai 2020 keinen statistisch signifikanten Unterschied im Erfolg der Bekämpfung der Pandemie. Ein anderes Beispiel sind Bundesstaaten in den USA, wie etwa Florida und Kalifornien, die wegen ihres warmen Klimas und der Küstenlage vergleichbar sind. Seit September 2020 folgt der Gouverneur von Florida der Wissenschaft, nämlich derjenigen Wissenschaft, mit der Pandemien in vergleichbarer Größenordnung stets medizinisch erfolgreich bekämpft wurden. Florida steht trotz aller katastrophalen Prophezeiungen, wenn man dieser Wissenschaft folgt, in der Pandemiebekämpfung nicht schlechter da als Kalifornien, wo weiterhin politische Repressalien bestehen. Ähnliches gilt für South Dakota, das nie zu politischen Zwangsmaßnahmen griff, im Vergleich zu North Dakota.

Marie Boiseaubert ‹Algen und Flechten›, Tusche auf Papier, Skizzenbuch, 2015

Mehr noch: Man wusste von Anfang an und hat inzwischen die Bestätigung in Form zahlreicher Studien, dass die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden der sogenannten Corona-Schutzmaßnahmen deren Nutzen bei Weitem übersteigen werden. Berechnen tut man das mittels einer Abschätzung der Lebensjahre, die durch einen Lockdown gewonnen werden können, wenn dadurch vorzeitige Todesfälle vermieden werden, im Vergleich zu den Lebensjahren, die infolge der gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden, die Lockdowns anrichten, verloren gehen, weil Menschen wegen dieser Schäden früher sterben werden, als es ansonsten der Fall wäre. Diese Todesfälle treten natürlich erst in der Zukunft auf, und zwar weltweit und in sozial ungleich verteilter Weise: Sie betreffen in erster Linie unterprivilegierte soziale Schichten und sich entwickelnde Länder, vor allem durch die Rückschritte in der Gesundheitsversorgung und Armutsbekämpfung in diesen Ländern. Natürlich lassen sich diese Zahlen nicht exakt abschätzen, aber ihre Größenordnung ist eindeutig: Die Schäden an verloren gehenden Lebensjahren übertreffen die möglicherweise gewonnenen Lebensjahre um ein Vielfaches.3

Die neue Normalität der geschlossenen Gesellschaft

Es ist an der Zeit, diese Fehler anzuerkennen und sicherzustellen, dass sich politische Repressalien, wie wir sie seit Frühjahr 2020 erlebt haben, nicht wiederholen – beispielsweise durch einen Verfassungsartikel, der Lockdowns und ähnliche Maßnahmen verbietet, weil sie unvereinbar mit Menschenwürde, Grundrechten und dem Rechtsstaat sind. Stattdessen wird uns ein Ausweg aus dem Engpass der organisierten Freiheitsberaubung suggeriert, der in der Impfung mehr oder weniger der gesamten Bevölkerung bestehen soll. Impfzertifikate sollen dann der Ausweis sein, durch den man sich Menschenwürde und grundlegende Freiheitsrechte erwirbt.

Es ist eine hervorragende Leistung medizinischer Forschung, in so kurzer Zeit einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt zu haben. Es gibt Risikogruppen, für die eine Infektion mit dem Coronavirus lebensgefährlich ist und für die eine Impfung daher Lebensjahre retten kann. Aber kein Staat hat das Recht, Impfungen anzuordnen. Eine Impfung ist ein körperlicher Eingriff. Menschenwürde, Grundrechte und Rechtsstaat gebieten es, dass jeder selbst über eine Impfung entscheiden darf, in einer persönlichen Abwägung der Nutzen und Risiken. Niemand – kein Staat, keine Wissenschaft, keine gesellschaftliche Gruppe – hat ein moralisches Wissen oder ist eine moralische Autorität, die Impfungen gebieten könnte. Auch Menschen, die statistisch zur Risikogruppe gehören, haben das Recht, mögliche Nebenwirkungen eines Impfstoffes in Betracht zu ziehen und auf die Impfung zu verzichten, zum Beispiel, weil sie die verbleibende Lebenszeit ohne etwaige Nebenwirkungen einer Impfung verbringen möchten. Statistisch gesehen liegt für alle unter 70 Jahren das Risiko, infolge einer Infektion mit dem Coronavirus schwere gesundheitliche Schäden zu erleiden, im Bereich alltäglich akzeptierter Risiken (wie zum Beispiel regelmäßiger längerer Autofahrten). Für diese Personen gibt es statistisch gesehen keine medizinische Grundlage, eine Impfung zu empfehlen. Aber auch hier soll jedem, der es wünscht, die Möglichkeit einer Impfung gegeben werden.

Man wusste von Anfang an und hat die Bestätigung durch zahlreiche Studien, dass die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden der sogenannten Corona-Schutzmaßnahmen deren Nutzen bei Weitem übersteigen werden.

Ferner ist es berechtigt zu verlangen, dass Personen, die in Kontakt mit gefährdeten Personen sind, in Situationen, in denen diese sich nicht selbst schützen können – wie in Alters- und Pflegeheimen –, im Rahmen des medizinisch Möglichen nachweisen müssen, dass sie diese Personen nicht in Gefahr bringen. Aber die skandalös hohe Zahl der Corona-Toten in Alters- und Pflegeheimen zeigt eben auch, dass der Versuch, die gesamte Gesellschaft mittels Reglementierung des sozialen Lebens durch die Pandemie zu steuern, einen gezielten Schutz der Risikogruppen unterminiert. Die politische Reglementierung des sozialen Lebens aller wird geradezu zur Entschuldigung, sich nicht gezielt um den Schutz der gefährdeten Personen kümmern zu müssen, mit fatalen Folgen für diese. Der angebliche Ausweg zurück zur Freiheit durch Impfungen ist deshalb so gefährlich, weil er einen wiederholbaren Präzedenzfall schafft, Freiheit an Bedingungen zu knüpfen. Coronaviren werden uns erhalten bleiben, ähnlich wie Grippeviren. Soll dann eine jährliche Impfung stattfinden? Ferner stehen andere Krisen vor der Tür, wie die Klimakrise. Sollen diese Krisen in ähnlicher Weise wie die Coronakrise bekämpft werden mit Aussetzen von Grundrechten, die man dann unter der Bedingung des Erwerbs eines Nachhaltigkeitspasses zurückerhält?

Man spielt hier im Namen angeblicher Solidarität ein Problem aus, das unsere freiheitliche Rechtsordnung ins Mark trifft, nämlich das Problem negativer Externalitäten. Damit ist Folgendes gemeint: Die Freiheit des einen endet dort, wo sie die Freiheit anderer bedroht. Handlungen des einen einschließlich der Verträge, die er eingeht, haben Auswirkungen auf Dritte, die außerhalb dieser Beziehungen stehen, deren Freiheit zur Gestaltung ihres Lebens aber durch diese Handlungen beeinträchtigt werden kann. Die Grenze, jenseits der die freie Lebensgestaltung des einen der freien Lebensgestaltung anderer einen Schaden zufügt, ist nicht von vornherein festgelegt. Man kann sie weit oder eng fassen. In der Corona-Krise – und auch in der Klimakrise – versuchen Verantwortliche in Politik, Wissenschaft und Medien mittels geschürter Angst diese Grenze so eng zu fassen, dass de facto kein Spielraum mehr für die freie Lebensgestaltung bleibt: Jede freie Lebensgestaltung des einen kann so ausgelegt werden, dass mit ihr negative Externalitäten einhergehen, die potenziell eine Bedrohung für die freie Lebensgestaltung anderer darstellen.

Marie Boiseaubert ‹Algen und Flechten›, Tusche auf Papier, Skizzenbuch, 2015

Es wird Angst geschürt vor der Ausbreitung einer angeblichen Jahrhundertseuche – aber natürlich kann jede Form physischen Kontaktes zur Ausbreitung des Coronavirus (ebenso wie anderer Viren und Bakterien) beitragen. Es wird Angst geschürt vor einer drohenden Klimakatastrophe – aber natürlich hat jede Handlung Auswirkungen auf die nicht menschliche Umwelt und kann dadurch zur Veränderung des Klimas beitragen. Das Ziel ist, Akzeptanz für Folgendes zu erlangen: Jeder soll nachweisen, dass er mit seinem Handeln nicht unabsichtlich zur Ausbreitung eines Virus oder zur Schädigung des Klimas beiträgt usw. – die Liste könnte man beliebig erweitern. Man stellt damit alle Menschen unter Generalverdacht, letztlich mit allem, was sie tun, andere zu schädigen. Folglich kehrt man die Beweislast um: Es muss nicht der konkrete Nachweis geführt werden, dass jemand mit bestimmten seiner Handlungen andere schädigt. Vielmehr muss jeder nachweisen, dass er andere nicht schädigt. Dementsprechend können sich die Menschen von diesem Generalverdacht nur dadurch befreien, dass sie ein Zertifikat erwerben, durch das sie sich reinwaschen – wie einen Impfpass, einen Nachhaltigkeitspass oder generell einen sozialen Pass. Das ist eine Art moderner Ablasshandel. Damit ist Freiheit abgeschafft und ein neuer Totalitarismus installiert; denn die Ausübung von Freiheit und die Gewährleistung von Grundrechten hängt dann von einer Genehmigung ab, die eine Elite von Expertinnen und Experten erteilt – oder eben verweigert.

Diese Elite von Expertinnen und Experten hat jedoch kein Wissen, das sie in die Position versetzen würde, solche Bedingungen ohne Willkür festzusetzen. Das wird uns in der Corona-Krise vor Augen geführt angesichts der gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden, welche die sogenannten Corona-Schutzmaßnahmen anrichten. Es geht auch nicht um Solidarität mit den gefährdeten Personen. Denn deren gezielter Schutz wird durch die politische Reglementierung des gesamten sozialen Lebens ja geradezu verhindert. Es geht um soziale Kontrolle der Lebensgestaltung aller.

Ähnliches ist bei dem politischen Umgang mit der Klimakrise zu befürchten. Die mit der Industrialisierung korrelierte Erderwärmung ist eine ernsthafte Herausforderung. Nichtsdestoweniger zeigt uns der Umgang mit Klimaveränderungen in der Geschichte, wie die Menschheit diese bisher durch spontane Anpassung zusammen mit technologischen Innovationen gemeistert hat. Die politische Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft, die sich wiederum über Menschenwürde und Grundrechte hinwegsetzt und die mit ziemlich willkürlichen, politisch beeinflussten Definitionen dessen operiert, was jeweils nachhaltig sein soll, führt nicht zum Ziel. Die Fakten zeigen schon jetzt, dass der CO2-Ausstoß in Industrieländern ohne Energiewende (wie Frankreich, Großbrittanien, USA) in den letzten 20 Jahren prozentual in gleicher Größenordnung zurückgegangen ist wie in Ländern, die mit enormem finanziellem Aufwand eine Energiewende betrieben haben (Deutschland).

Marie Boiseaubert ‹Algen und Flechten›, Tusche auf Papier, Skizzenbuch, 2015

Es ist wiederum zu befürchten, dass die politische Lenkung zur angeblichen Rettung des Weltklimas eine gezielte, je lokale Bekämpfung derjenigen konkreten Umweltprobleme verhindert, die tatsächlich in der Gegenwart jedes Jahr eine Vielzahl von Todesopfern fordern. Wiederum geht es um soziale Kontrolle, wie man zum Beispiel am Umgang mit denjenigen Aktivitäten sieht, die nicht unter das staatlich verordnete Nachhaltigkeitsschema fallen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Verunglimpfung der gesamten anthroposophischen Bewegung in einem Artikel der anerkannten Zeitung ‹The Guardian› vom 10. Januar 2021 (die in anderen Zusammenhängen wertvolle und aufklärende journalistische Arbeit leistet).4 Es ist kein Zufall, dass es weitgehend dieselbe Expertise-Gruppe und ihre Organisationen wie Akademien im Verbund mit einigen aus Politik und Wirtschaft sind, welche Corona-Krise und Klimakrise zum Anlass nehmen, eine politische Steuerung des sozialen Lebens vorzunehmen. Die Ausbreitung des Coronavirus soll offenbar als Generalprobe für Folgendes herhalten: durch das gezielte Schüren von Angst negative Externalitäten so umfassend zu definieren, dass jede Freiheitsausübung unter Generalverdacht steht, um dann eine Kontrolle der Freiheit durch von angeblichen Expertinnen und Experten formulierte Bedingungen durchsetzen zu können.

Wieso geschieht das? Für viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und Intellektuelle ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht. Für Politikerinnen und Politiker ist es wenig attraktiv, das Leben der Menschen seinen Gang gehen zu lassen. Da kommt die Gelegenheit recht, altbekannte, aber in neuer Form auftretende Herausforderungen zu existenziellen Krisen hochzureden und Angst zu schüren mit pseudowissenschaftlichen Modellrechnungen, die in Katastrophenprognosen münden. Dann können Wissenschaftler sich mit politischen Forderungen ins Rampenlicht stellen, denen durch den angeblichen Notstand keine rechtsstaatlichen Grenzen gesetzt sind. Die Politik kann durch wissenschaftliche Legitimation eine Macht erhalten, in das Leben der Menschen einzugreifen, die sie auf demokratischem, rechtsstaatlichem Wege nie erlangen könnten. Bereitwillig hinzu gesellen sich diejenigen wirtschaftlichen Akteure, die von dieser Politik profitieren und die Risiken ihrer Unternehmen auf die Steuerzahlenden abwälzen können. Dahinter steht allerdings keine gezielte Planung oder gar eine ‹Verschwörung›. Es ist ein Trend, der sich aus kontingenten Umständen gebildet hat und der dann immer mehr gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure mit sich reißt – sei es aus aufrichtiger Überzeugung, aus Machtwillen oder aus Profitinteressen.

Die anstehende Weichenstellung

Wie nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, stehen wir heute erneut vor einer Weichenstellung zwischen einer offenen und einer geschlossenen Gesellschaft. Die offene Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie jeden Menschen als Person anerkennt: Die Person hat eine unveräußerliche Würde. Sie hat die Freiheit, ihr Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten, ebenso wie die Verantwortung, für ihr Handeln auf Verlangen Rechenschaft abzulegen. Freiheit ist die Condition humaine. Wenn wir denken und handeln, sind wir frei. Das ist deshalb so, weil man für Gedanken und Handlungen – und nur für diese – Gründe und damit Rechtfertigungen verlangen kann. Für Verhalten, das eine Reaktion auf biologische Reize und Begierden ist, ergibt es hingegen keinen Sinn, Gründe zu verlangen. Frei sind wir, weil die Spezies Mensch sich in der Evolution von dem Zwang befreit hat, einer bloßen Reaktion auf Reize unterworfen zu sein.

Wir stehen heute vor einer Weichenstellung zwischen einer offenen und einer geschlossenen Gesellschaft. Die offene erkennt jeden Menschen in seiner Würde an.

Aus dieser Freiheit ergeben sich Grundrechte. Das sind Rechte der Abwehr gegen äußere Eingriffe in die eigene Urteilsbildung darüber, wie man sein Leben gestalten will. In der Philosophie werden diese Grundrechte so gedacht, dass sie mit der Existenz von Personen gegeben sind, also nicht vom positiven Recht eines Staates und kontingenten historischen Umständen abhängen. So zum Beispiel im Naturrecht seit der Antike; in der Aufklärung, die universelle Menschenrechte politisch einforderte, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten und unter anderem zur Abschaffung der Sklaverei führten; bei Kant, dessen kategorischer Imperativ fordert, Menschen stets als Zweck an sich selbst und nie nur als Mittel zu einem Zweck zu behandeln; im 20. Jahrhundert unter anderem auch in der Diskursethik von Karl-Otto Apel oder der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Der Staat ist ein Rechtsstaat, der diese Rechte schützt; er lenkt die Gesellschaft nicht, sondern lässt den Menschen freien Lauf, ihre sozialen Beziehungen zu gestalten.

Die geschlossene Gesellschaft zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie ein bestimmtes Gut – wie heute Gesundheitsschutz oder Klimaschutz – in dem Sinne absolut setzt, dass sie es über Grundrechte und Menschenwürde stellt. Die Gewährung von Grundrechten und der Respekt der Menschenwürde zur individuellen Lebensgestaltung werden von Bedingungen abhängig gemacht, die eine Allianz von Experten, Politikerinnen und Wirtschaftsführern zusammen mit den Mainstreammedien festsetzt als angeblich erforderlich, um dieses Gut zu schützen. Der Zugang zum gesellschaftlichen Leben wird durch diese Bedingungen reglementiert und in einem Impfpass, einem Nachhaltigkeitspass oder generell einem sozialen Pass zertifiziert. Das ist ein Totalitarismus: Das gesamte gesellschaftliche Leben bis hin zur familiären und individuellen Lebensgestaltung wird durch diese Elite im Verbund mit den Leitmedien gesteuert.

Es zeichnet sich jedoch schon heute wieder das altbekannte Resultat ab: Wenn man Wert X – hier Gesundheitsschutz oder Klimaschutz – über Menschenwürde und Grundrechte setzt, dann zerstört man nicht nur diese, sondern erzielt im Endeffekt auch ein schlechtes Resultat in Bezug auf X. In diesem Falle sind das gravierende negative Effekte für den Gesundheitsschutz, für die gesamte Bevölkerung und weltweit betrachtet infolge der verheerenden Schäden, welche die sogenannten Corona-Schutzmaßnahmen anrichten; ebenso die Vergeudung immenser Summen in fehlgesteuerte Energiewenden zur angeblichen Rettung des Weltklimas, welche den gezielten, lokalen Umweltschutz unterminieren.

Es ist höchste Zeit, dass wir uns der Weichenstellung bewusst werden, vor der wir stehen. Dazu ist ein nüchterner Blick erforderlich, der sich nicht von den Ängsten trüben lässt, welche die heutigen Gegner und Gegnerinnen der offenen Gesellschaft in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien schüren, nämlich den Blick und das Vertrauen darauf, was jeden Einzelnen von uns als vernunftbegabtes Lebewesen auszeichnet: die Würde der Person, die in ihrer Freiheit im Denken und Handeln besteht.

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Footnotes

  1. Studien zusammengefasst in Eran Bendavid et al., Assessing mandatory stay-at-home and business closure effects on the spread of COVID-19. In: European Journal of Clinical Investigation 51 (2021), e 13484. Siehe auch die Übersicht über die relevanten Studien des American Institute of Economic Research, Lockdowns do not control the coronavirus: the evidence (abgerufen 20. Dezember 2020). Siehe ferner Christian Bjørnskov, Did lockdown work? An economist’s cross-country comparison. In: CESifo Economic Studies, 29. März 2021, 1–14, DOI: 10.1093/cesifo/ifab003. Für eine Kritik der Lockdownpolitik in Deutschland siehe Christoph Lütge und Michael Esfeld, Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen. München, Riva 2021.
  2. Vgl. R. F. Savaris et al., Stay-at-home policy is a case of exception fallacy: an internet-based ecological study. In: Nature Scientific Reports 11, 2021, Artikel Nr. 5313.
  3. Siehe zum Beispiel für Deutschland Bernd Raffelhüschen, Verhältnismäßigkeit in der Pandemie: Geht das? In: WiSt. Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Juli 2020; für die Schweiz Konstantin Beck und Werner Widmer, Corona in der Schweiz. Plädoyer für eine evidenzbasierte Pandemie-Politik. (abgerufen 16. Dezember 2020) ISBN 978-3-033-08275-5, ; für das Vereinigte Königreich David K. Miles, Michael Stedman und Adrian H. Heald, «Stay at home, protect the National Health Service, safe lives»: a cost benefit analysis of the lockdown in the United Kingdom. In: International Journal of Clinical Practice 75.3, 2020, DOI: 10.1111/ijcp.13674. Siehe auch den Oxfam-Bericht, The hunger virus: how COVID-19 is fuelling hunger in a hungry world, 9. Juli 2020, herunterzuladen auf oxfam.de/presse.
  4. Ginger root and meteorite dust: the Steiner ‘Covid cures’ offered in Germany

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