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Menschenseele!

Die Medizinische Sektion widmet sich in ihrer kommenden Jahreskonferenz vom 12. bis 15. September der menschlichen Seele und ihrer Bedeutung für Krankheit und Gesundheit. Ein Gespräch mit dem Sektionsleiter Matthias Girke. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Wie kam das Thema für die Jahreskonferenz ‹Menschenseele!› zustande?

Matthias Girke Die kommende Jahreskonferenz steht ja in einer Reihe, die wir vor zwei Jahren mit dem Thema ‹Wärme› begonnen haben und dann letztes Jahr mit ‹Licht› in seiner therapeutischen Bedeutung weitergeführt haben. Diese Reihe spiegelt den großen menschlich-kosmologischen Entwicklungszyklus, den Rudolf Steiner in der ‹Geheimwissenschaft› entwirft und mit ‹Alter Saturn›, ‹Alte Sonne› und ‹Alter Mond› benennt. Dieser dritten Stufe der Entwicklung widmen wir uns dieses Jahr. Während im ersten Schritt der Leib und dann mit dem Licht die Lebensprozesse im Fokus waren, ist es nun die Beseelung des Menschen.

Darauf beruht ja alle Entwicklung, dass erst aus dem Leben der Umgebung selbständige Wesenheit sich absondert; dann in dem abgesonderten Wesen sich die Umgebung wie durch Spiegelung einprägt und dann dies abgesonderte Wesen sich selbständig weiter entwickelt.

Rudolf Steiner, GA 13, 1989, S. 191

Dazu habt ihr Rudolf Steiners Zeilen vorangestellt, die einen Dreischritt der Beseelung beschreiben.

Schon im Tierreich sehen wir von Fischen hinauf zu den Säugetieren, dass die Seele erst im Umkreis lebt und sich dann bei den höher entwickelten Tieren mit dem Organischen mehr und mehr verbindet. Bei den Tieren schließlich, die sich dann lautlich äußern können, erwacht die Seele, soweit das für ein Tier eben möglich ist. Was im Tierreich so ausgebreitet ist, das ist bei uns Menschen in der biografischen Entwicklung zu sehen: Da ist bei den kleinen Kindern die Seele peripher ausgebreitet und verbindet sich dann immer mehr mit den Gliedmaßen, mit dem Leib. Auch hier: Beginnend aus dem träumenden Bewusstsein erwacht die Seele, je mehr sie in den Leib einzieht. Sie ergreift ihn schließlich innerlich und wird zu einem Entwicklungsraum für das Ich. Das spricht Rudolf Steiner im zweiten Teil des Satzes an: dass die Seele, die sich absondert, ihr eigenes Leben entfaltet. Wir können auch den Wechsel von Tag und Nacht nehmen: Am Tag sind wir seelisch zentriert, in der Nacht lebt die Seele peripher. Was die Seele nachts in ihrer göttlichen Heimat erfährt, das macht es ihr möglich, am Tag zu einem selbstbestimmten Wesen zu werden. Auf drei Feldern haben wir damit diesen Atem der Seele: phylogenetisch, dann biografisch und dann im Rhythmus von Tag und Nacht.

Die Tagung hätte im Sinne der Elemente – nach Wärme und Luft – auch mit ‹Wasser› überschrieben sein können?

Das Wasser findet sich im Titelbild des Tagungsprospektes: Da sind Formen dargestellt, wie sie der Klang im Wasser bildet. In der Bildsprache ist das Wasser da und tatsächlich spielen in der Tagung Wasser, Flüssigkeit und balneologische Anwendungen eine große Rolle. Ich freue mich, dass dabei die anthroposophischen Ansätze zur Hydrotherapie von einem Arzt und einem Patienten dargestellt werden. Die Seele hat eine Beziehung zur Luft, was in Atem und Sprache sich zeigt, und zum Wässrigen. In der Tagung werden wir beides aufgreifen.

Das gilt auch für die beiden Richtungen des Seelischen, nach innen und nach außen: Ein immer tieferes Verständnis von der Beziehung der Seele zum Leib zu bekommen, das ist die eine Herausforderung, denn wir wissen: Alle Erkrankungen haben eine seelische Dimension. Das gilt für Krebserkrankungen, aber besonders für die heute so häufig auftretenden Kreislauf- und Skleroseerkrankungen. Sie gehen mit seelischen Phänomenen wie Depression einher. Die eigentliche Ursache des Erkrankens liege in der Geist- und Seelenfähigkeit des Menschen. Diese wichtige Aussage von Ita Wegman und Rudolf Steiner bedeutet, dass wir nicht nur einen Blick auf den Leib brauchen, sondern dass wir das Fenster öffnen für den Blick auf die Seele in ihrem Zusammenhang mit dem Organismus. Die zweite Richtung betrifft den umgekehrten Weg: Wenn ein Mensch unter Stress ist, dann heilen seine Wunden schlechter. Rudolf Steiner gibt den Hinweis, dass mangelnde Moralität sich in schwächeren Heilungskräften spiegle. Positiv gewendet bedeutet es, dass ein gesunder Atem der Seele dem Leib hilft, sich zu heilen. So wie zur Erkrankung seelische Gründe gehören, so ist die Seele auch Teil der Heilung. Das sind die zwei Seiten: Das Bewusstsein der Seele zehrt Lebenskräfte und kann schließlich zur Erkrankung führen; und umgekehrt gibt es die aufbauende Kraft der Seele: Wenn uns etwas erfüllt, dann schenkt uns das Lebenskraft.

 


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Das betrifft die Beziehung nach innen zum Leib. Und wie lässt sich die Beziehung nach außen beschreiben?

Die Seele ist ein Beziehungsorgan. So charakterisiert sie auch Rudolf Steiner schon früh, anknüpfend an Franz Brentano. Wir wissen heute gut, dass wir das, was andere Menschen tun, sagen und denken, innerlich mitvollziehen. Die Seele hat sich diese für die Kindlichkeit typische Art des Sichaufeinanderbeziehens erhalten. Wir freuen uns, dass wir für das Phänomen der Resonanz mit Thomas Fuchs von der Universität Heidelberg einen ausgewiesenen Kenner an der Tagung haben werden. Er wird darüber sprechen, was sich heute neurobiologisch über die Beziehung der Seele zur Welt sagen lässt. Indem sich die Seele in der Wahrnehmung nach außen kehrt, verbinden wir uns mit der Welt und den Mitmenschen. Indem sie sich nach innen wendet, kommen wir zu uns und gewinnen Autonomie.

Sind da Ermüdung und Erregung die pathologischen Extreme?

Diese Polarität findet sich in allen Seelenfähigkeiten, dass entweder eine Erstarrung droht oder eine vom Ich nicht mehr zu lenkende Dynamik entsteht. Die Erstarrung zeigt sich häufig in der Depression, kreisende Gedanken lassen uns fest werden. Tatsächlich führt Depression nicht nur die Seele, sondern auch den Leib in eine Erstarrung. Das Gegenbild ist, wenn Illusionen und Euphorie den Menschen gefangen nehmen. Hier ist die Manie das Krankheitsbild.

Seelische Ursachen in Erkrankungen zu suchen, ist auch heikel – oder?

Der Begriff ‹Schuld und Krankheit› braucht eine Erlösung! Viele Menschen kommen in die Sprechstunde mit dem Gefühl von Schuld. Natürlich sagt ein Raucher, bei dem ein Lungenkarzinom diagnostiziert wird, mit Recht, dass er ja selbst schuld sei. Das sind aber zu enge Betrachtungshorizonte, wenn man nur die persönliche Schuld in den Blick nimmt. Es gibt hier drei Ebenen, die zu unterscheiden sich lohnt: Jede Krankheit hat einen individuellen Anteil. Der eine, der ein Leben lang raucht, erkrankt, der andere nicht – da ist die Krankheit individuelles Schicksal. Krankheit kann aber auch ein Beziehungsschicksal in sich tragen, hier hat die Krankheit etwas mit der Gemeinschaft zu tun. Aus Schweden kennen wir eine Studie, dass in Betrieben und Sozialformen, die hierarchisch aufgebaut sind, das Risiko, am Herz zu erkranken, mit jeder Hierarchiestufe nach unten steigt. Der ungelernte Arbeiter hat ein 2,5-faches Risiko für Herzkreislauferkrankungen gegenüber dem Chef. Das bedeutet, dass die Art, wie wir zusammenleben, auch über Gesundheit und Krankheit entscheidet. Was wir als die Dreigliederung des sozialen Organismus kennen, das hat eine gesundheitliche Dimension. Oder anders: «Du machst mich krank», an diesem Ausspruch kann durchaus Wahres dran sein.

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Die Begriffe Schuld und Krankheit brauchen eine Erlösung. Viele Menschen kommen in die Sprechstunde mit dem Gefühl von Schuld.

Das scheint noch recht unbekannt zu sein.

Mit seinen Hinweisen, was Schocks oder Kummer für die Heranwachsenden gesundheitlich bedeuten, war Rudolf Steiner einer der Ersten, der die seelische Dimension von Erkrankten und Gesunden hervorgehoben hat. Heute gibt es hier deutliche Zahlen, zum Beispiel, dass Kinder, die Schweres erlitten haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit von rheumatologischen Erkrankungen und chronischen Schmerzsyndromen befallen werden. Aus Seelenschmerz wird leiblicher Schmerz. Diese körperlichen Folgen sollte man dann nicht wegdrängen, denn aus ihnen können wiederum neue seelische Schwierigkeiten erwachsen.

Also die persönliche und die gemeinschaftliche Ebene. Und die dritte?

Die dritte Ebene ist die Zeitebene. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele entzündliche Erkrankungen wie Tuberkulose, während am Ende des Jahrhunderts viel mehr sklerotisierende Krankheiten vorherrschen, wie Demenz oder Alzheimer, degenerative, karzinomatöse Erkrankungen. In dieser Spanne bauen sich unsere Schicksale, wir sind auch Teil eines menschheitlichen Prozesses, zu dem in verschiedenen Zeiten spezifische Krankheiten gehören. Das ist wieder ein Hinweis, die Menschheitsentwicklung als große Biografie zu begreifen, dass es wie in einem Menschenleben zu unterschiedlichen Lebensaltern unterschiedliche Schwierigkeiten gibt. Positiv gefragt: Was braucht die menschheitliche Entwicklung an Krankheitssituationen und adäquater Therapie, um sich gesund weiterentwickeln zu können? Diese drei Ebenen, die menschliche, die menschheitliche und die evolutionäre, die sind ineinander verflochten. So beobachte ich häufiger, dass es Menschen gibt, die Erkrankungen für andere Menschen übernehmen. Da sage ich mir: Die haben die Krankheit nicht ‹verdient›, die gehört eigentlich nicht zu ihnen. Krankheit hat also immer auch etwas Zeit- und Gesellschaftsgeschichtliches an sich. Damit wird auch Heilung etwas Größeres: Sie ist nicht nur die ‹persönliche Reparatur›, sondern es geht dabei auch um die Heilung einer Gemeinschaft, einer Zeit. Wer erkrankt, leistet einen Beitrag für das gesamte Werden.

 


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Zurück zu Rudolf Steiners Spruch: die Seele, die in der Sonderung nun sich selbst entwickelt. Was ist hier der medizinische Gesichtspunkt?

Wir leben in einer Informationsgesellschaft. Die Seele wird in einem bisher ungekannten Maß mit Daten überschüttet, während die Seele gleichzeitig kaum Sinn und Bedeutung erfährt. Ich habe dabei das Gefühl, dass die Sinnsuche, die ja zum Kern jeder Biografie gehört, zugedeckt wird durch die Sucht nach Information. Was Rudolf Steiner in ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› als Weisheitsgier beschreibt, das würde ich heute Informationssucht nennen. Das ist ja ein Merkmal dafür, dass wir Sinn- und Bedeutungsverlust haben – Daten statt Wissen. Der Datenfülle steht die Sinnleere entgegen, und so wundert es nicht, dass wir viele Patienten mit diesem Gefühl der inneren Leere haben. Es geht deshalb um eine Entwicklung des Ich, sodass das Ich Substanz in die Seele strahlt, dass ein idealisches Feuer immer wieder entzündet wird. Was noch hinzukommt, sind die enormen Angstzustände, die heute viele Menschen erleben. Sie zeigen sich häufig in Gewalt, denn wer Angst hat, zeigt eine höhere Bereitschaft, Gewalt auszuüben. Was schon Rudolf Steiner als das Gewaltmenschentum beschreibt, das hat viel mit Furcht und Angst zu tun. Wir fragen also, wie die Seele zu Sinnerfahrung und zu Mutkräften kommt. Dabei ist interessant, dass sich Mut dort bildet, wo ich etwas verstehe, wo ich Sinn erfahre. Wenn ich über ein schmales Brett über einem Abgrund laufen soll, so habe ich einen viel größeren Mut zur Verfügung, wenn drüben jemand ist, der meine Hilfe braucht. Aus Sinn wächst Mut, manchmal übermenschlicher Mut.

Wo ist beim Thema ‹Seele› das Neuland, die Terra incognita?

Unsere Hoffnung, an der Tagung zu neuen Antworten zu kommen, geht in dreierlei Richtung. Dass wir die geschilderte doppelte Wirksamkeit des Seelischen erkennen, hier ist tatsächlich eine Terra incognita für die Medizin. Wie also im Leben Seele und Leib zusammenhängen, das ist eine Erkenntnisfrage für uns. Zweitens hoffe ich, dass wir mehr Klarheit darüber gewinnen, wie in den kunsttherapeutischen Richtungen die Seele lebt. Was fühle ich beim Malen, beim Sprechen oder bei einer anderen Therapie? Was ist die Differenzialindikation? Wann mache ich Musik, wann Maltherapie, wann Heileurythmie? Wann und wie wirken Arzneimittel auf die Seele? Das ist ja eine überaus interessante Frage, wie eine Substanz auf die Seele wirken kann, denn unser gewöhnlicher Substanzbegriff lässt das eigentlich gar nicht zu. Rudolf Steiner sagt von Giftpflanzen, sie seien zu stark ‹astralisiert›, sie haben also eine zu starke seelische Imprägnierung. Um es größer zu fassen: Wie wirkt die Weltseele in einer Pflanze und dann therapeutisch auf den Menschen, das ist die zweite Frage. Die dritte Frage ist dann, welche Hilfen wir in der Entwicklung der Seele entdecken können. Wir haben in der Psychosomatik und Psychotherapie viele Instrumente. Wie können sie eine Entwicklung der Seele und des Geistes möglich machen? Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung des Patienten, sondern auch um die des Therapeuten, denn um ein guter Therapeut zu sein, muss er oder sie auch in der seelisch-geistigen Entwicklung stehen. In diesen Berufen hat Rudolf Steiner veranlagt, dass professionelles Können und spirituelle Kompetenz sich die Hand geben. Auf diesem Feld arbeiten ja viele Therapierichtungen, weil hier die Not groß ist. Deshalb beschäftigt uns, wie wir hier Brücken bauen können. Wir können ja nicht in unserem eigenen Garten bleiben, sondern wir brauchen die Anthroposophische Medizin als ein atmungs- und kommunikationsfähiges medizinisches System. Hier leiten uns drei Zielrichtgungen: Die Anthroposophische Medizin muss auch von außen verstehbar sein, sie muss vermittelbar sein – das ist nicht das Gleiche. Die höhere Mathematik ist zum Beispiel verstehbar, aber nicht vermittelbar. Was ist hier die richtige Sprache, auch ganz alltäglich, jenseits des Akademischen? Das Dritte ist die Wirksamkeit. Die anthroposophische Medizin muss heilen können und das müssen wir auch belegen können. Verstehbarkeit, Vermittelbarkeit und Wirksamkeit, das sind die drei Ziele und Entwicklungsrichtungen. Wenn es uns gelingt, mit der kommenden Jahreskonferenz auf dem Feld der Seele hier Schritte zu machen, dann ist das eine schöne Frucht.


Bilder: Illustrationsreihe 5/G35, Adrien Jutard

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