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Leuchtfäden

Am 28. Dezember führte die Premiere von ‹Leuchtfäden› des Goetheanum-Eurythmie-Ensembles in die Welt, in der der Mensch am Irdischen anstößt.


Ein Mensch steht da und spricht, er spricht allein mit seiner Ichkraft und öffnet den Raum mit seiner Frage: «Weißt du, wer du bist?» Im Programm ‹Leuchtfäden› kommt der Mensch nicht nur auf die Erde, er stößt an. Klanglich untermauern dies Ausschnitte aus ‹Je sens un deuxième Cœur› von Kaija Saariaho, deren Spannungen die Eurythmie hervorhebt. Ocatavio Paz schildert in ‹El Cántaro roto› die Verstrickungen des Menschen auf der Erde, gesteigert in der von Thomas Stearns Eliots in ‹The Waste Land› geschilderten Kargheit: «Amongst the rock one cannot stop or think.» (Inmitten der Felsen kann man nicht stehen bleiben oder denken.) Der Komapatient in Marica Bodrožićs Roman ‹Das Wasser unserer Träume› hat dieses Anstoßen bei einem Autounfall erlebt. Er erwacht mit einem peripherisch wachen Bewusstsein. Auch auf der Bühne stülpt sich das Verhältnis um: Dort steht die Sprecherin (Barbara Stuten) im Fokus, die Eurythmisten zeigen in ruhigen Bewegungen Aspekte der ausgebreiteten Seele. Wie durch ein Schlüsselloch nimmt der Verunfallte wahr: «Hier, auf der anderen Seite des Lebens, bin ich einem größeren Willen ausgesetzt. Das Wasser rauscht Tag und Nacht.» Den bedrohlichen Gewalten der Naturkraft steht nun die Wandlungskraft der Naturkräfte gegenüber. Die Seinssphäre der geistigen Welt öffnet sich weiter in Sätzen aus Ludwig van Beethovens Streichquartett Opus 132, sie lösen die Apokalypse des Seins in der durchlichteten und durchpulsten Sternenwelt, dem Ewig-Lebendigen, auf. Das Nachtgeschehen schildern auch Wilhelm Busch und Hermann Beckh – als gescheiterte Suche nach dem Schlüsselloch, indes bei Beethoven Freude, Frieden und Harmonie aufblühen, eurythmische Urtonskalen im Hintergrund das Geschehen impulsieren und zuweilen in die Raumbewegungen der anderen mit eintauchen, sie mitgestalten – es ist Weihnachtsstimmung.


Nächste Aufführung 6. Februar, 20 Uhr, Goetheanum

Bild: ‹Leuchtfäden›. Foto: Katrin Oesteroth

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