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Das Warten auf die große Welle

Die Coronapandemie ist durch die Regeln der Grundhygiene und soziale Distanz derzeit auf dem Weg der Eindämmung. Auch bei uns im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe haben wir nur noch vier beatmete Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation und einen Patienten mit Covid-19 auf der Infektionsstation. Die Coronaambulanz versorgt nur noch ca. 30 Erkrankte am Tag und die Hotline wird nur noch vereinzelt nachgefragt.


Die Frage, die alle bewegt, ist, wie es weitergeht. War dies schon die erste Welle? Kommt nach Lockerung des Shutdowns eine zweite Welle und wann? Welche Strategie wird nun verfolgt? Die Indexzahlen für die Beurteilung der Infektionsausbreitung haben sich deutlich gebessert. Der Reproduktionsindex (R, der die weitere Ansteckung einer infizierten Person innerhalb von fünf Tagen anzeigt) war anfänglich 3,5 und ist auf einen Wert von 0,7 gefallen. Bei einem R von 2,5 sind nach fünf Tagen 2,5 weitere Personen infiziert worden und nach 30 Tagen 406 Personen. Bei einem R von 1,25 sind nach 30 Tagen 15 Personen und bei einem R von 0,625 nach 30 Tagen immer noch 2,5 Personen infiziert worden, d. h., es besteht immer noch eine Vermehrung der Anzahl an Infizierten. Es bedarf daher einer weiteren Reduktion von R auf unter 0,3. Ein weiterer Index der Infektionsausbreitung stellt die sogenannte Infektionsverdoppelungszeit dar. Diese lag anfänglich bei drei bis vier Tagen und ist nun in Deutschland bei ca. 25 und in Berlin bei 35 Tagen.

Wirkungsvoll und wirkungslos

Diese Entwicklung ist zweifelsohne ein Erfolg und bedarf der Analyse der eingeschlagenen Maßnahmen. Das epidemiologische Bulletin Nr. 17 des Robert-Koch-Institutes (RKI) gibt guten Aufschluss darüber. Es lässt sich erkennen, dass das Verbot von Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen am 9. März zirka drei Tage später zu einem Abfall des Reproduktionsindex R führte. Der Abfall nach zirka drei Tagen ist aufgrund der Infektionszeiten zu früh, um allein diese Maßnahme für den Abfall verantwortlich zu machen, zeigt aber einen nachhaltigen Effekt. Der relativ frühe Abfall nach dieser Maßnahme ist auch durch die Quarantänemaßnahmen der Skiurlauber aus Ischgl und anderen Orten bedingt. Gleichzeitig erging mit dem Verbot von Großveranstaltungen auch der Aufruf an die Bevölkerung, Basishygiene und soziale Distanzierung vorzunehmen. Die Anordnungen zur sozialen Distanzierung und das Schließen der Schulen zeigten nur eine leichte Abflachung der Kurve und sind in ihren Effekten daher nur gering zu bewerten. Zum Zeitpunkt der Anordnung des ‹Shutdowns› am 23. März lag der Wert R bereits unter 1, was zum damaligen Zeitpunkt als der angestrebte Zielwert für diese Maßnahme von der Politik benannt wurde. Es erbrachte keinerlei Einfluss auf einen weiteren Abfall von R in der Folgezeit. Aufgrund des Meldeverfahrens zum rki sind leider Zeitverzögerungen von zwei bis drei Wochen für die epidemiologischen Bewertungen jeweils gegeben. Als die wesentlichen Faktoren zur Eindämmung ergeben sich aus den epidemiologischen Daten das Verbot von Großveranstaltungen sowie der Aufruf zu Basishygiene und sozialer Distanzierung. Die Kita- und Schulschließungen (16.3.2020) und vor allem der Shutdown (23.3.2020) zeigen keine wesentlichen Effekte auf den Infektionsausbreitungsprozess (R).

Welche Langzeitstrategie verfolgt die Politik und wie kann eine medizinische Bewertung vorgenommen werden?

Da die Coronapandemie zur Chefinnensache erklärt wurde, kommt den Äußerungen der Bundeskanzlerin eine hohe Bedeutung zu. In dem Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder vom 15. April wird unter Absatz 17 verlautbart: «Eine zeitnahe Immunität in der Bevölkerung gegen sars-CoV-2 ohne Impfstoff zu erreichen, ist ohne eine Überforderung des Gesundheitswesens und des Risikos vieler Todesfälle nicht möglich. Deshalb kommt der Impfstoffentwicklung eine zentrale Bedeutung zu. Die Bundesregierung unterstützt deutsche Unternehmen und internationale Organisationen dabei, die Impfstoff­entwicklung so rasch wie möglich voranzutreiben. Ein Impfstoff ist der Schlüssel zu einer Rückkehr des normalen Alltags. Sobald ein Impfstoff vorhanden ist, müssen auch schnellstmöglich genügend Impfdosen für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen.» Kanzleramtschef Helge Braun (selbst Arzt) führt dazu gegenüber der Deutschen Presse-Agentur in Berlin weiter aus: «Um nur die Hälfte der deutschen Bevölkerung in 18 Monaten zu immunisieren, müssten sich jeden Tag 73 000 Menschen mit Corona infizieren. So hohe Zahlen würde unser Gesundheitssystem nicht verkraften und sie könnten auch von den Gesundheitsämtern nicht nachverfolgt werden. Die Epidemie würde uns entgleiten.» Damit wird klar ausgedrückt, dass der (natürlichen) Herdenimmunisierung (Gemeinschaftsimmunisierung) eine Absage erteilt und vollständig auf eine Impfung bei der Coronapandemie gesetzt wird.

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Die politisch gewählte Strategie, alles auf eine Karte einer hoch effizienten Impfung zu setzen, ist daher ebenso ein Vabanquespiel, wie allein auf die politisch verworfene Herdenimmunität zu setzen.

Medizinisch muss diese alleinige Langzeitstrategie als optimistisch bis naiv bewertet werden. Das Coronavirus gehört seit Jahrzehnten zu den winterlichen respiratorischen Infektviren und der neue Typ SARS-CoV-2 zeigt, wie auch die anderen Coronavirustypen, eine hohe genetische Varianz und Wandlungsfähigkeit. Ähnlich weisen die Influenza-Viren (Typ A und B) seit Jahrzehnten große Veränderungen auf und jede größere Epidemie ist durch andere Virustypen bedingt. So konnte bisher kein Impfstoff entwickelt werden, der einen vollständigen und nachhaltigen Impfschutz und damit Immunität erreichte. Je nach Influenza-Typus konnte eine Abschwächung schwerer Verläufe und eine Letalitätsreduktion von ca. 10 bis max. 65 Prozent durch die Influenzaimpfung erreicht werden. Die Coronaviren verhalten sich ähnlich den Influenzaviren bzgl. der Variabilität und genetischen Varianz. Es ist daher keinesfalls nur annähernd gesichert, dass, wenn eine Impfung für SARS-CoV-2 kommt, diese eine hohe Wirksamkeit auf die Letalitätsreduktion hat und einen vollständigen Impfschutz bietet. Der Virologe Hendrik Streeck hält die Entwicklung eines effektiven Impfstoffes gegen SARS-CoV-2 erst in vier bis fünf Jahren für möglich, anders als dies Christian Drosten von der Charité sieht, der selbst derzeit an drei Impfstoffentwicklungen beteiligt ist und gegebenenfalls einen Interessenkonflikt aufweist. Ebenfalls stark wandlungsfähige Viren sind das HIV und das Hepatitis-C-Virus. Gegen HIV und Hepatitis C gibt es auch nach 40 Jahren intensiver Forschung keine Impfung. Die politisch gewählte Strategie, alles auf eine Karte einer hocheffizienten Impfung zu setzen, ist daher ebenso ein Vabanquespiel, wie allein auf die politisch verworfene Herdenimmunität zu setzen.

Stärke der Demokratie ist die Debatte

Um eine rationale Strategie entwickeln zu können, bedarf es einer Zielbestimmung, um in einem nächsten Schritt die verschiedenen möglichen Wege, die zu einer Zielerreichung führen könnten, abzuwägen und im demokratischen und wissenschaftlichen Kontext zu diskutieren. Sicher kann das Ziel einer maximalen Vermeidung von Covid-19-Todesfällen um jeden (anderen) Preis keine Option sein und wird nun auch von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verlautbart. Vielmehr sollte die Maximierung einer Schadensbegrenzung auf medizinischem, psychosozialem, gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Felde ein gemeinsames Ziel sein und die verschiedenen Werte müssen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Dazu bedarf es der fachlichen Analyse und Bewertung, die keinesfalls durch Einzelpersonen vorgenommen werden sollte, sondern durch einen gesellschaftlichen und damit auch politisch geführten konsensuellen Prozess der verschiedenen Fachexpertisen. Statt eines begrenzten Blickwinkels einzelner, wie der Virologen mit alleinigem Blick auf das Pathogen SARS-CoV-2, muss lösungsorientiert eine Risikoabwägung und damit eine Risikostratifizierung verschiedener Szenarien gesellschaftlich diskutiert erfolgen. Komplexe Probleme erfordern ein differenziertes Vorgehen, bei dem neben der medizinischen Bewertung entsprechende Handlungsoptionen auch psychosozial, gesellschaftlich und wirtschaftlich bewertet werden müssen. Wissen ist nicht Macht der Einzelnen, sondern sollte zur gesellschaftlichen Verantwortung werden. Politische Äußerungen von Virologen ohne Weitsicht und Verantwortungsübernahme sind unverantwortlich und kontraproduktiv. Stärke der Wissenschaft und Demokratie sind Streitgespräch, Diskurs und Debatte.

Die einseitig pathogenetisch geführte medizinische Debatte vor allem einzelner Virologen mit hohem Einfluss auf die Politik muss um die Sichten von Hygienikern, Epidemiologinnen, Klinikerinnen wie Intensivärzten, Infektiologinnen, Kinderärztinnen, Ethikern, Psychologinnen etc. erweitert werden und um die salutogene Sicht der Eigenbefähigung des Menschen durch sein Immunsystem, sich gegenüber Bakterien und Viren zu behaupten. Es ist heute unbestritten, dass die menschliche Mikrobiota existenziell für die Ausbildung des Immunsystems verantwortlich ist und daher die aktiv erlangte Immunität des Individuums gegenüber Bakterien und Viren die einzige Langzeitstrategie des Menschen gegenüber den Pathogenen von Bakterien und Viren sein kann.

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Politische Äußerungen von Virologen ohne Weitsicht und Verantwortungsübernahme sind unverantwortlich und kontraproduktiv. Stärke der Wissenschaft und Demokratie sind Streitgespräch, Diskurs und Debatte.

Das Hauptargument der Kanzlerin und der mahnenden Politik gegen eine Herdenimmunität ist die Angst vor Überlastung des Gesundheitssystems. Tatsache ist, dass das Gesundheitssystem in Deutschland so wenig belastet war wie in den letzten 20 Jahren nicht. Durch Konzentration auf die Covid-19-Infektion kam es im Gesundheitssystem zu einem Herunterfahren aller routinemäßigen Krankenversorgung. Die maximale Auslastung der Intensivmedizin und der Beatmungskapazitäten war nie über 15,7 Prozent aller vorgehaltenen Betten gestiegen. Zum Zeitpunkt des Shutdowns vom 23. März waren 2629 Covid-19-Patientinnen und -Patienten auf den Intensivstationen, wovon 74 Prozent beatmet waren. 11 507 Intensivbetten waren frei und eine Reservekapazität von 14 000 Intensivbetten war vorbereitet. Somit lag die Auslastung der Intensivmedizin durch Covid-19 zu diesem Zeitpunkt bei ca. 10 Prozent. Die Gesamtauslastung der deutschen Krankenhäuser lag in dieser Zeit bei zwischen 50 und 60 Prozent. Geschäftsführende der Krankenhäuser klagen über die Unterauslastung und befürchten den Bankrott. Regierungspolitik und reale Welt gehen hier weit auseinander.

Es ist keine Frage, dass es in Italien, Spanien, Großbritanien etc. zu lokalen Überforderungssituationen im Gesundheitssystem kam. Ein Vergleich der Systeme zeigt, wie das deutsche Gesundheitssystem ganz andere Kapazitäten vorhält. In Italien gibt es bei einer Bevölkerung von 60 Millionen 5100 Intensivbetten. In Deutschland sind es bei 81 Millionen 28 000 Intensivbetten, die kurzfristig auf 42 000 aufgestockt werden konnten. Hier liegt ein Faktor 6 und mit Reservebetten Faktor 8 gegenüber Italien vor. Ähnlich sieht es gegenüber Spanien und Großbritanien aus. In ganz Großbritanien gibt es nur 15 ECMO-Plätze (Extrakorporale Membranoxygenierung; künstliche Lunge), in Berlin hingegen werden ca. 160 solcher ECMO-Behandlungsplätze vorgehalten. Die extremen lokalen Überlastungen in Norditalien, Spanien und Großbritanien gingen aber auch auf logistische Probleme zurück, da statt nationaler oder europäischer Koordinierung und Krisenmanagement die Schlagbäume in Europa fielen und regionales statt solidarisch-europäisches Krisenmanagement gelebt wurde. Deutschland hätte in einem weit höheren Maße für andere Länder seine Intensivkapazitäten und seine Expertise zur Verfügung stellen können. Auf Expertenebene gab es nie einen intensiveren und kollegialeren Fachaustausch zwischen den Nationen wie zur Corona-Krisenzeit. Experten und Expertinnen handeln durch die Ärzteschaft in politisch definierten Handlungsräumen, statt des realitätsfernen politischen Agierens hätten sie viele Probleme lösen können. Solange die Politik nicht, wie oben gefordert, Expertinnen- und Expertenkommissionen als Ad-hoc-Beratungen mit diskursiver und transparenter Debattenkultur zur Beratung beizieht, wird Lobbyistentum und Einzelberatung das Niveau einer Krisenbewältigung bestimmen.

Das Gebot der Stunde

Beide Wege beinhalten Risiken und Nebenwirkungen. Der politisch eingeschlagene Weg nimmt derzeit große psychosoziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Kollateralschäden in Kauf und setzt allein auf eine Impfstrategie, die (hoch-)wahrscheinlich keine komplette Immunität bewirkt und gegebenenfalls nur abgeschwächte Verläufe bedingt. Dieser Weg ist einseitig pathogenetisch und problemorientiert ausgerichtet. Ein alleiniges Setzen auf eine natürliche Herdenimmunität als salutogenetisches Prinzip und lösungsorientiertes Handeln nimmt eine hohe Anzahl an zusätzlichen Todesfällen gerade bei Risikogruppen (ca. 20 Prozent der Bevölkerung; Herz-Kreislauf-, Lungen-Erkrankte, Polymorbide, Alte etc.), insbesondere bei Überlastung des Gesundheitssystems in Kauf und wäre ähnlich einseitig wie der rein pathogenetisch orientierte Weg.

Gemäß der WHO-Definition beinhaltet die integrative Medizin das Beste aus konventioneller und komplementärer Medizin. Als Vertreterin der integrativen Medizin zeigt die Anthroposophische Medizin einen Weg, der das pathogenetische und das salutogenetische Prinzip verbindet, da sich beide Prinzipien keinesfalls ausschließen, sondern zu einem integrativen Gesamtsystem ergänzen. Daher sind die erfolgversprechenden pathogenetisch orientierten Maßnahmen wie Meidung/Verbot von Großveranstaltungen, Basishygienemaßnahmen, soziale Distanzierung ohne differenzierte Separierung und Kohortenquarantäne großer Bevölkerungsgruppen die eine Seite und das differenzierte Herbeiführen einer Herdenimmunität durch Risikostratifizierung die andere Seite. Junge und gesunde Personen können ohne große Probleme die Covid-19-Erkrankung durchmachen, hingegen die Risikogruppe durch Kontaktbegrenzung, Schutzmaßnahmen (Mund-Nasen-Schutz; Infektionssurveillance der Kontaktpersonen, insbesondere des Personals in Alten- und Pflegeeinrichtungen) ihren Schutz bekommen, um Massenausbrüche zu verhindern. Das Sowohl-als-auch-Prinzip und Beschreiten verschiedener Lösungswege mit transparentem Diskurs von multiprofessionellen Experten und Expertinnen im Dialog der Politik scheint das Gebot der Stunde und entspricht nicht einem linearen Denken und Handeln, sondern bedarf der Differenzierung und Risikostratifizierung. Komplexe Probleme bedürfen eines differenzierten Vorgehens und können nicht monokausal gelöst werden.

Was Mediziner und Medizinerinnen beunruhigt, ist die Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 27. März. Nur wenige Gesetze erlauben die deutliche Einschränkung der Grundrechte eines Menschen. Dazu gehört das IfSG in Paragraf 28 Absatz 5, wo bisher die kommunalen Gesundheitsämter nach Maßgabe der Gefahrenlage zwischen Individuum und Gemeinwohl Einschränkungen der Grundrechte für eine Person vornehmen können. Ähnliches gilt für das Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG), wo Zwangsmaßnahmen mit Einschränkung der Grundrechte vorgenommen werden können. Im IfSG und auch im PsychKG kann die Anordnung nur durch Fachpersonal vorgenommen werden. Im PsychKG wird diese Maßnahme im Eilverfahren richterlich jeweils überprüft. Grundlage unseres Rechtssystems ist das Individualrecht und somit bedarf die amtsärztliche (IfSG) oder nach PsychKG angeordnete Zwangsunterbringung der ärztlichen Fachexpertise und kann individualrechtlich überprüft werden. Mit Änderung des IfSG unter dem Einfluss der Coronapandemie kann durch Änderung von Paragraf 5 des IfSG der Bundestag bei «einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite» diese Lage beschließen und aufheben sowie Verfügungen erlassen, die sonst nur die Gesundheitsämter individuell erlassen dürfen. Hier geschieht der Schritt vom Individualrecht zur Kollektivverordnung inkl. der Einschränkung der individuellen Grundrechte (§ 28 IfSG) sowie von der Fachbeurteilung zur politischen Einschätzung der epidemischen Lage. Die Einbindung des RKI als Fachbehörde oder objektivierbare Parameter, die den Sachverhalt begründen müssen, sind gesetzlich im IfSG nicht definiert worden. Damit wurde die grundlegende föderale Struktur des IfSG mit dieser Gesetzesnovellierung eingeschränkt. Individualerlasse auf Grundlage einer Fachexpertise der Gesundheitsämter nach IfSG werden nun zu politischen Kollektiverlassen und Verordnungen.

Auch die öffentliche Debatte geht nun in eine antiföderale und damit kollektivierende Richtung. Mussten bisher im IfSG die Einschränkungen von Grundrechten auf fachlicher ärztlicher Expertise individuell abgewogen werden, so kann nun die Politik darüber verfügen und die medialen und politischen Forderungen gehen teilweise in Richtung Vereinheitlichung der föderalen Landesverordnungen. Wird im IfSG die individuelle Situation von Persönlichkeit, Wohnraum, Familie etc. berücksichtigt, so soll es nun für alle richtig sein, auch für Berlin gelten zu lassen, was die Situation in Bayern erfordert. Die Politik erscheint handlungsstark und die Regierungskoalition erfreut sich plötzlich großer Zustimmung in der Bevölkerung. Die Sinnhaftigkeit der einzelnen Maßnahmen muss nicht dargelegt werden, da die Maßnahmen ja meist schon von vielen Seiten in den Medien gefordert wurden. Stärke der Demokratie ist der Schutz von Minderheiten und des Individuums. Das Streitgespräch, der Diskurs und die Debatte sind die Grundlage der Demokratie. Verschwindet dies aus der öffentlichen Gesellschaft, sollten gerade in Deutschland alle Alarmglocken läuten! Die vermeintliche Stärke entpuppt sich doch stets als die Kompensation der Schwäche. Illiberale Demokratien in Europa nutzten die Coronakrise zur weiteren Stärkung ihrer zentralen Regierungsmacht. Steckt in der Krise verständlicherweise der Wunsch nach pragmatischer und kollektiver Lösung, so bedarf es aber gerade in der Coronakrise einer differenzierenden und komplexen Antwort, die keinesfalls nur eine medizinische sein kann. Der Shutdown hat deutlich gemacht, dass alle Lebensfelder betroffen sind und daher die Coronakrise auch eine soziale Krise darstellt. In der Mathematik und der Wissenschaft gibt es durchaus das Richtig oder Falsch. Im Sozialen gibt es dies nicht! Das Soziale fordert immer die Frage nach der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit. Was ist in meinem sozialen Umfeld für mich und die Gemeinschaft jetzt das Angemessene? Das Soziale stellt mich in Bezug zu meiner Umwelt und bedarf der ständigen Anpassung, da sich dieses Verhältnis stets dadurch ändert, dass beide Seiten Veränderungs- und Entwicklungsprozessen unterliegen. Soll die Begegnung konstruktiv gestaltet werden, bedarf es eines dialogischen Prozesses. Tritt Unbehagen auf, so liegt es derzeit häufig am erlebten Gefühl der Unangemessenheit und auch der Bevormundung. War das Vertrauen in die beiden Regierungsparteien vor der Coronakrise sehr gering bzw. stark gefallen, so wird das ‹starke Handeln› derzeit von vielen Bevölkerungsschichten als positiv bewertet. Hat vielleicht der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Regierungsparteien vor der Coronakrise nun auch das Vertrauen der Politik in die Mündigkeit ihrer Wählerinnen und Wähler gemindert?

Es ergibt sich die Frage: Welche Ziele und Wege findet die Politik? Kommt es zum Dialog der gesellschaftlichen Schichten und Gruppen? Darf die erhoffte Impfung weiter als alternativlos gelten? Wie kommt ein differenzierender gesellschaftlicher Dialog in Gang? Die epidemiologischen Daten lassen nicht erwarten, dass wir in den nächsten Wochen bereits eine zweite Erkrankungswelle erleben müssen, jedoch wahrscheinlich in Alten- und Pflegeheimen noch kleine Hotspots auftreten werden. Ungelöst ist die Frage der Kitas und Schulen, wo mit Akribie die Ausbreitung der Infektion verhindert werden soll, auch wenn gerade in dieser Bevölkerungsschicht Potenzial für eine Herdenimmunität, aber auch Gefahr für die Weiterverbreitung in die Risikogruppen durch Kontakte besteht.


Titelbild: Gilda Bartel, Ohne Titel, Tusche und Pigment, Weimar, 2017.

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