Das Licht der Zukunft

In einer Krise zeigen sich ökologische oder soziale Probleme im Brennglas, werden schwelende kalte Konflikte zu heißen – eine Dramatik, die die Tür zur Verwandlung öffnet.


‹Das verlorene Jahrzehnt›, so titelte die Zeitschrift ‹Der Spiegel› am Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts eine Ausgabe und illustrierte die Aussage mit rauchenden Schloten, der Pleite der Lehman-Bank und mit westlichen Soldaten im Irak. Die drei Krisen dieser Zeit waren so im Bild: die Klimakrise, die Finanzkrise und die Krise im Mittleren Osten. Ist das Jahrzehnt deshalb verloren? Seit der Finanzkrise ist die Skepsis gegenüber Bankgeschäften selbstverständlich geworden, gehört es zur allgemeinen Überzeugung, dass Derivate und Hedgefonds nur wenigen nützen. David Graeber, der Denker der Occupy-Bewegung, bringt es in seinem Buch ‹5000 Jahre Schulden› 2011 auf die Formel: «Wenn die Geschichte etwas zeigt, dann dies, dass es keine bessere Methode gibt, auf Gewalt gegründete Beziehungen zu verteidigen und moralisch zu rechtfertigen, als sie in die Sprache von Schuld zu kleiden – vor allem, weil es dann sofort den Anschein hat, als sei das Opfer im Unrecht.» Ja, so setzt er fort, das Heimtückische der Schulden sei, dass sowohl Täter als auch Opfer Ja zu dem Zwangsband sagen. Auch die Klimakrise zeigte im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts Wirkung. 2007 kam der vierte Bericht des Weltklimarats heraus. Anders als die früheren veröffentlichten Szenarien rüttelte dieser das Weltbewusstsein auf. Wenn auch viele, selbst Regierungen, den Klimawandel leugneten, so war das Thema doch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Schwieriger war es offenbar mit der Kulturkrise. Das einflussreiche Buch von Samuel Huntington vom Kampf der Kulturen (‹Clash of Civiliza­tions›) von 1996 erwies sich mit dem Attentat vom 11. September 2001 beinahe als Prophetie. Und dennoch scheint darin der Satz «Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind», also in der Abgrenzung die eigene Identität zu erfahren, zum 20. und nicht zum 21. Jahrhundert zu gehören.

Eine Krise als Spiegel

Es sind drei Krisen, die von Pionieren des ökologischen Gewissens wie dem Club of Rome (1968) oder den frühen Umweltverbänden (1980) bereits eine Generation früher gesehen und benannt wurden. Mit dem neuen Jahrhundert waren sie nun für alle Augen zu sehen – kein verlorenes Jahrzehnt. Bevor wir als große Gemeinschaft mit diesen drei Baustellen ganz vertraut wurden, ihre Bewältigung im öffentlichen Gespräch ihren Platz fand, da scheint es, als wären sie nur ein Präludium. Mit Ablauf des zweiten Jahrzehnts stellt die Pandemie als neue Krise die drei beschriebenen in den Schatten. Mit Corona hat eine Pandemie die Welt im Griff, bei der es mehr als die Krankheit selbst der Umgang mit ihr zu sein scheint, der dem Leben den Boden wegzieht. Wie beim brennenden Haus, wo man nicht weiß, ob die Flammen oder das Löschwasser den größeren Schaden anrichten, so war es auch bei Corona, gerade im ersten Jahr angesichts von traumatisierten Heranwachsenden, isolierten älteren Menschen und einem sedierten Kulturleben. Was heißt das? Wenn weniger die Sache das Problem ist, sondern vielmehr der Umgang mit ihr, dann geht es weniger um das richtige Werkzeug, weniger um die beste Lösung als vielmehr um uns selbst.

Im zweiten Jahr wird aus dem Leben gegen die Pandemie ein Leben mit der Pandemie. Es scheint zum Virus zu gehören, dass er sich nicht eingleisig beherrschen lässt, weder mit Kontaktbeschränkung noch mit Impfen oder der Idee einer allgemeinen Immunität. Wie wohl für die meisten oder vielleicht für alle gegenwärtigen Probleme gilt auch für Corona, dass es nicht eindimensional, nicht aus einer Perspektive zu bewältigen ist. Dabei ist die Corona-Krise mehr als nur ein Spiegel, sie erscheint zugleich als ein Okular: An einer Waldorfschule in Baden-Württemberg baten Oberstufenschüler ihre Lehrerin, die Abstandsregel einzuhalten und eine Maske zu tragen. «Dann ruft doch die Polizei», habe sie geantwortet. Da griff ein Schüler oder eine Schülerin zum Handy und alarmierte tatsächlich die Ordnungshüter.

Foto: Sam Moqadam

Eine Krise als Okular

Damit es im Unterricht so eskalieren kann, muss das Verhältnis zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern schon zuvor gestört und das Verhältnis der Lehrerin zum Rechtsraum einer öffentlichen Schule schon zuvor brüchig gewesen sein. Die Pandemie legt ein Brennglas auf schwelende Konflikte. An einem Basler Gymnasium meldete die Sprecherin der Schülerschaft einem Lehrer, dass es Schülerinnen und Schüler gebe, die wegen Überforderung und Notenstress unter Schlafstörungen leiden und sich nicht selten mit Ritalin helfen würden. Dann seien diese Schüler und Schülerinnen wohl dem Lernniveau nicht gewachsen und sollten die Schule verlassen, kam als Antwort. Die Corona-Krise offenbarte diese Empathie- und Verantwortungslosigkeit gegenüber den Heranwachsenden: Die Schulen mussten über Monate schließen und die Entscheidungstragenden nahmen biografische Schädigung und Traumata einer Schülergeneration in Kauf. Die Corona-Krise zeigte und zeigt, wo in der Gesellschaft Anteilnahme und Engagement fehlen: in Bildung, Kultur und Kunst, bei den Jüngsten und den Ältesten. Angesichts von Theaterschließungen trotz Schutz- und Hygienekonzepten forderte der Theatermacher Dieter Hallervorden, in der Verfassung ein Recht auf Kunst und Kultur zu verankern, um so die Kultur vor staatlichen Einschränkungen zu schützen.

‹In› der Krise lernen heißt, sie zu bewältigen, ‹aus› der Krise lernen bedeutet hingegen, zu sehen, worauf sie das Licht wirft, zu verstehen, dass eine Krise nicht nur Rechnung vergangener Versäumnisse ist, sondern auch möglich macht, dass die Zukunft in die Gegenwart hereinstrahlt. Das geschieht durch das, auf was die Krise ihr Licht wirft, was sie in einer gesellschaftlichen Entzündung hervorkehrt. Krisen lassen alte Formen sterben und sind Hebamme für neue. Es ist wie im persönlichen Leben. Man lernt aus Initiative oder Leid. Da nun keine die Menschheit führenden Genies solche Initiative in die Menschheit bringen, werden Krisen zum eigentlichen Motor der Verwandlung. Sie vergegenwärtigen Zukunft. Diese Gegenwart der Zukunft hilft, die Entschlossenheit zu bilden, sich von der Krise nicht in der Gegenwart gefangen nehmen zu lassen und den Mut aufzubringen, gerade dann, wenn nicht einmal die Gegenwart sicher scheint, in die Zukunft zu gehen.

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