Auf tönernen Füßen

Die Frage ist berechtigt, die schnelle Antwort nicht: Soziologen und Soziologinnen der Uni Basel haben untersucht, wie die Corona-Proteste in Baden-Württemberg zu erklären sind. Die sogenannten ‹Querdenker› seien vor allem aus dem anthroposophischen Umkreis hervorgegangen, so die These, die medial zur Feststellung wurde. Doch weder Methode noch Ergebnis der Studie überzeugen.


2020 wurde von Nadine Frei und Oliver Nachtwey im Fachbereich Soziologie an der Uni Basel das Forschungsprojekt ‹Politische Soziologie der Corona-Proteste› mit der Intention initiiert, die Motive, Überzeugungen und Werte von Teilnehmern und Sympathisanten von (Anti)-Corona-Protesten auch empirisch zu untersuchen. Es entstand ein Arbeitspapier1, also keine wissenschaftliche Publikation mit dem dafür üblichen Peer-Review. Bei dem Projekt aus dem Jahr 2020 wurde ein sogenannter ‹Mixed-Method-Ansatz› gewählt, der ethnografische Beobachtungen, qualitative Interviews, eine quantitative Erhebung und eine Dokumentenanalyse umfasst. Kernstück der quantitativen Befragung ist ein im November 2020 durchgeführter Survey in Telegram-Gruppen, an dem sich 1152 Personen beteiligten. «Dafür wurden Einladungen in Telegram-Chats von Protestorganisatorinnen und -organisatoren in Deutschland und in der Schweiz gepostet. Es handelt sich […] damit um eine nicht-repräsentative Erhebung.»2

Beim Label ‹Anthroposophisches / Esoterisches Denken› sollen die Befragten vier Aussagen positiv oder negativ bewerten:

• «Unsere natürlichen Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen.»

• «Mehr spirituelles und ganzheitliches Denken würde der Gesellschaft guttun.»

• «Alternativmedizin sollte mit Schulmedizin gleichgestellt werden.»

• «Die Krise zeigt auch, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben.»

Bei allen vier Fragen wurde am meisten ‹stimme voll und ganz zu› angekreuzt. Die Forscher folgern: «Insgesamt sind Querdenkerinnen und Querdenker, soweit sie an unserer Erhebung teilgenommen haben, weder ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich, in einigen wenigen Bereichen sogar eher antiautoritär und der Anthroposophie zugeneigt.»3

Basierend auf den Ergebnissen dieser Studie wurde im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung 2021 ein (Teil-)Projekt unter dem Titel ‹Quellen des ‚Querdenkertums‘. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg› mit dem Ziel ins Leben gerufen, den Entstehungskontext der Querdenker-Bewegung in Baden-Württemberg nachzuzeichnen, das heißt, welche Merkmale die dortige Querdenker-Bewegung aufweist und weshalb diese Bewegung in diesem Bundesland besonders verwurzelt und ausgeprägt ist. Diese Sekundäranalyse der Erhebung aus dem Jahr 2020 basiert auf der Auswertung von 144 der 1152 Daten aus der Telegram-Fragebogenerhebung. Auch diese Teilstudie basiert auf dem sogenannten ‹Mixed-Method-Ansatz›, der acht qualitative Interviews beinhaltet, die via Zoom mit Personen aus vier Ursprungsmilieus durchgeführt wurden: aus dem alternativen, dem anthroposophischen, dem christlich-evangelischen und dem bürgerlichen Protestmilieu.

Zur Definition dieser Milieus und wie die Zuordnung der Befragten zu ihnen erfolgte, findet man in dem Beitrag nichts. Pro Milieu wurden zwei qualitative Interviews durchgeführt. Dazu heißt es auf Seite 8: «Die explorativ konzipierte Studie verfolgt nicht den Anspruch, eine vollumfängliche Klärung der Querdenker-Bewegung in Baden-Württemberg zu erarbeiten, vielmehr werden Thesen entwickelt, die weiterer Forschung bedürfen.» Sie enthält ein dezidiertes (inhaltliches) 16-seitiges Kapitel zur Anthroposophie, das hauptsächlich den katholischen Religionswissenschaftler Helmut Zander zitiert. In Fußnote 41 heißt es zum methodischen Ansatz: «Bislang gibt es eher wenig soziologische Untersuchungen zur Anthroposophie. Im Folgenden beziehen wir uns vor allem auf die einschlägige Forschung des Religionshistorikers Helmut Zander. Es gibt allerdings zahlreiche journalistische Abhandlungen zur Anthroposophie, die zum Beispiel bzgl. Rassismus und Antisemitismus in Steiners Lehre einen wichtigen Debattenbeitrag geleistet haben (vgl. u. a. Brügge 1984; Ditfurth 1996; Bierl 1999; Sebastiani 2021). Die Fülle an anthroposophischer Literatur aus der Innenperspektive, die dem eigenen Programm eine Grundlage bieten soll, wird für die vorliegende Studie nicht einbezogen. Dabei ist zu beachten, dass es innerhalb der Anthroposophie auch kritische Auseinandersetzungen mit dieser gibt.»

Was zitiert das für die Böll-Stiftung aufgewärmte Arbeitspapier von Zander? «In seinem ‹Absolutheitsanspruch des Wissens› und seinem Anspruch einer ‹Geheimwissenschaft› liegt der autoritäre Kern seiner Weltanschauung. Nur ‹Eingeweihten› sei es möglich, zu den ‹geistigen Wahrheiten› (Steiner, zitiert in Zander 2004: 300) zu gelangen.» Wenn man bedenkt, dass von ‹Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?› bis zur Gründung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft es Steiner zu allererst ein Anliegen war, jedem Menschen einen Weg zum ‹Eingeweihten› aufzuzeigen, zeugt solch ein Zander-Substrat davon, wie Anthroposophie in ihr Gegenteil verzerrt wird. Leserinnen und Leser, die den Ansatz der Anthroposophie nicht kennen, bekommen hier einen völlig verqueren Eindruck. Steiner vertrat einen Multi-Perspektiven-Ansatz, bei dem es die ‹eine Wahrheit› nicht gibt – und somit einen ‹Absolutheitsanspruch des Wissens› gar nicht geben kann.

Kurz danach wird Zander im selben Duktus bezüglich der Waldorfpädagogik zitiert: «So ist Steiners Pädagogik vom typisch esoterischen Anspruch inspiriert, dass ‹Eingeweihte mit ihrem übersinnlichen Wissen über nicht demokratisierbare Erkenntnis verfügen› (Zander 2019: 252).» Steiner setzte sich faktisch lebenslang dafür ein, das Initiationsprinzip zum Zivilisationsprinzip zu machen. Das ist ein Demokratisierungsprozess sondergleichen!4

Wenn die eigenen Aussagen nicht gelten

Die als ‹objektiv› verpackten Verrisse der Anthroposophie eines katholischen Religionswissenschaftlers dienen als ideelle Grundlage dieser soziologischen Studie, die auch uralte Schmähschriften der Agitatoren Ditfurth und Bierl als Literatur erwähnt – die ‹Innenperspektive› anthroposophischer Literatur aber für die vorliegende Studie nicht einbezieht. Das ist in etwa so, als wenn man Studien über Mathematiker anstellt, diese aber für Spinner erklärt, die komische Formeln mit Wahrheitsanspruch behaupten würden, und wenn man weiter vorbringen würde, deren eigene Aussagen seien aus ihrer mathematischen ‹Innenperspektive› gegenüber einer objektivierten Betrachtung von außen, die sich auf die Spinnereien der Mathematiker nicht einlässt, vernachlässigbar.

Als Gesprächspartner im anthroposophischen Milieu standen zwei Geschäftsführer aus zwei Waldorfschulen in Baden-Württemberg (Frau Mond und Herr Grimme) sowie zwei nicht näher benannte Persönlichkeiten aus der Leitung einer anthroposophischen Klinik zur Verfügung: «Im Rahmen der Studie führten wir ein Experteninterview mit dem Geschäftsführer und dem ärztlichen Direktor einer anthroposophischen Klinik vor Ort durch.» Da Nachtwey und Co. in Basel sind, hätten sie auch auf die Idee kommen können, ein Interview in Dornach zur Anthroposophie durchzuführen. Davon aber keine Spur – es gibt ja den Helmut Zander, der die Anthroposophie und ihre Tochterbewegungen objektiv verortet hat, da muss man sich nicht um die ‹Innenperspektive› der anthroposophischen Bewegung kümmern.

Aus den Interviews leiten die Autoren verschiedene Thesen ab: «Die drei Interviews legen die These nahe, dass nicht in erster Linie die Anthroposophie für die Ablehnung coronabedingter Maßnahmen ausschlaggebend ist, sondern die Verkopplung aus anthroposophischer Staatskritik und [der] generell staatskritischen Haltung der betreffenden Akteure, das [sic: die] vor allem in der Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.» (S. 46) «Auch Frau Mond betont das staatsablehnende Argument: ‹Also die Begründung war immer, dass alles, was der Staat vorgibt zu tun, ja kein Schutz ist, sondern Vergewaltigung am Kind, Freiheitsberaubung, dass das alles ja erstunken und erlogen sei.› Sie habe nicht den Eindruck, dass es den Eltern tatsächlich um das Wohl der Kinder gehe, als vielmehr um ihre eigene Selbstbestimmung.» Es sieht nicht danach aus, dass Geschäftsführerin Mond eine Autorisierung ihrer vermutlich spontanen Aussagen verlangte, bevor diese veröffentlicht wurden.

Staatstragende Waldorfschulen

Mit dem Untertitel ‹Anthroposophie und Querdenken› schreiben die Soziologen: «Es sind nicht ausschließlich die coronabedingten Maßnahmen und ihr Eingriff in die Autonomie aller Bürgerinnen und Bürger, die eine Mobilisierung im anthroposophischen Milieu erklären können. Es gibt eine starke Wahlverwandtschaft zwischen dem anthroposophischen Denkstil und der Corona-Kritik. Es geht bei den Corona-Protesten zumeist um die Themen selbst – Körper und Gesundheit –, die das anthroposophische Milieu seit ihrer Entstehung bewegen. Aus anthroposophischer Sicht sind dabei Individualität und Ganzheitlichkeit zu berücksichtigen. Die geführten Hintergrundgespräche mit Akteurinnen und Akteueren in Waldorfschulen und einer anthroposophischen Klinik verdeutlichen grundlegende Unterschiede der beiden Praxisfelder in Bezug auf Anthroposophie und den Umgang mit der Coronapandemie. Neben strukturellen Unterschieden (Waldorfschulen haben durch die Selbstverwaltung einen größeren Spielraum) besteht ein wesentlicher Unterschied während der Coronapandemie mitunter darin, dass die Gefährlichkeit des Virus im Klinikalltag omnipräsent war und zu einer starken Belastung der Klinikstruktur geführt hat. An Waldorfschulen gab es hingegen Proteste gegen die coronabedingten Maßnahmen, basierend auf der Überzeugung, dass es sich beim Coronavirus um keine gefährliche Krankheit handle. Die Proteste gründeten insbesondere auf Kritik an fehlender Freiheit, Selbstbestimmung und Mitsprache. Sie richteten sich explizit gegen einen staatlichen Eingriff in ihre selbstverwaltete Struktur. Auch wenn Kritik an den Corona-Maßnahmen nicht primär anthroposophisch begründet wurde, handelt es sich um Einrichtungen, die eine ideelle beziehungsweise institutionelle Grundlage dafür bieten.»

Ich habe vier Jahrzehnte für die Waldorfschulen in Deutschland gearbeitet. Alle Waldorfschulen, die ich kenne, hielten sich stets an vom Staat vorgegebene Regeln. Das beginnt bei der Bauaufsicht und endet beim Abitur, wo der Staat sämtliche Regeln vorgibt, die natürlich in die Pädagogik der Oberstufe eingreifen, von Waldorfschulen aber weitestgehend akzeptiert sind, ja wo gute Abischnitte gefeiert werden.5 Dazu gehören auch Regeln der Gesundheitsämter, einschließlich Hygieneverordnungen. Was man auch immer privat davon halten mag: Institutionell ist man doch gar nicht in der Lage, sich diesen zu widersetzen. Daran ändert auch die Selbstverwaltung nichts. Allerdings waren diese Regeln oft alles andere als eindeutig: Als ich die Corona-Verordnungen in Berlin und Brandenburg beruflich akribisch analysierte, musste ich immer wieder feststellen, dass sie mit so heißer Nadel gestrickt waren, dass selbst die Rechtsabteilung der Schulverwaltung wiederholt die Hände über dem Kopf zusammenschlug und nicht sagen konnte, was denn nun für Schulen in freier Trägerschaft gelte und was nicht. Erst gegen Ende wurde das teilweise vereinheitlicht. Einige Geschäftsführer in meiner Region äußerten dann, sie hätten es begrüßt, dass es klarer von oben verordnet wurde, weil das der Schule längere Diskussionen mit Eltern ersparte, bei denen es stets sehr polarisierte Fraktionen gab, die Gegenteiliges wollten.

Mängel in der Studie

Der Abschnitt ‹Anthroposophische Einflüsse› des Kapitels ‹Die Grünen und die Entfremdung vom anthroposophisch gefärbten Alternativmilieu› des aufgewärmten Arbeitspapiers beginnt wie folgt: «In der Gründungsphase der Grünen spielten einzelne Personen, die der anthroposophischen Weltanschauung nahestanden, eine Rolle. Dazu gehörten auch völkisch-nationalistische Personen wie zum Beispiel Baldur Springmann und Werner Georg Haverbeck, beide mit NS-Vergangenheit. Relevanter für das Einbringen anthroposophischer Ideen war aber der ‹Achberger Kreis›, dessen ‹institutionelle[s] Zentrum› (Mende 2011: 141) im südöstlichen Baden-Württemberg lag.»

Dass Haverbeck etwas mit den Grünen zu tun haben soll, war mir neu. In einer Schrift aus der Fachhochschule Bielefeld, die einst Haverbeck beschäftigte, findet man dazu Folgendes6: «Und mit der wachsenden Ökologiebewegung gehörte auch Haverbeck zu jenen Protagonisten, die eine Politisierung im Sinne einer Parteigründung forderten und zur Gründung der ‹Grünen Aktion Zukunft› (GAZ) beitrugen. In der Mitte der 1970er war es neben Haverbeck zum Beispiel auch Baldur Springmann, der als ehemaliger SA-Mann auch eine Karriere im nationalsozialistischen Deutschland vorweisen konnte. […] Als in der Konstituierungsphase der Partei sich aber herauskristallisierte, dass die ‹Grünen› eher eine politisch linke Partei werden sollten, die nicht nur eine Anziehungskraft auf Mitglieder der verschiedenen in sich zersplitterten K-Gruppen ausübte, sondern sich auch diesen öffnete, gingen bürgerlich-konservative Umweltaktivisten zu der GAZ auf Distanz.» Somit war Haverbeck bei der Parteigründung der Grünen als solcher nicht mit dabei. Allerdings waren Gerald Häfner (ehemaliger Bundestags- und Europaparlamentsabgeordneter der Grünen und nunmehr Leiter der Sozialwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum) sowie Henning Kullack-Ublick (langjähriger Klassenlehrer in Flensburg und danach Vorstandssprecher des deutschen Bundes der Freien Waldorfschulen) sehr wohl bei der Gründung der Grünen dabei, respektive für Bayern und Kiel. Diese Personen werden in der Studie aber nicht erwähnt, geschweige denn interviewt, obwohl das naheliegend gewesen wäre.

Die zweite Studie weist somit handwerkliche Mängel auf. Die Auswahl der Interviewpartner wird nicht erläutert, das methodische Vorgehen nicht transparent gemacht, die Ergebnisse werden nicht in ihren Clustern etc. erläutert. Auch wird die hypothesengeleitete Konstruktion (Operationalisierung) von Milieus kaum entwickelt – die wäre für die Einordnung der Ergebnisse aber höchst relevant. Daten und Interviews dieser Art könnten durchaus spannende und überraschende Ergebnisse hergeben, sind in der bisherigen Publikationsform aber weitgehend unbrauchbar bzw. nicht nachvollziehbar. Das Ganze ist als Publikation der Böll-Stiftung auch nicht einem wissenschaftlichen Standard verpflichtet, hat aber durch den Namen Nachtwey den Nimbus des Wissenschaftlichen.

Dennoch enthält die Studie interessante Ansätze. Jost Schieren (Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule bei Bonn) bemerkte in einem ‹Zeit›-Interview vom 24.11.2021: «Eltern, die ihre Kinder auf freie Schulen schicken, sind in der Regel etwas nonkonformistischer, liberaler und weniger staatsorientiert. Viele verfolgen einen individuellen, alternativen Lebensstil. Das gilt auch für viele Lehrkräfte. Und nun hat der Staat, wie nie zuvor seit der Begründung der Bundesrepublik, in die persönliche Freiheit des Einzelnen eingegriffen. Aber nicht alle, die die Freiheitseinschränkungen angezweifelt haben, sind deshalb automatisch Corona-Leugner und denken antiwissenschaftlich. Als etwa die Maskenpflicht an Schulen aufkam, haben manche Eltern und Lehrer sich daran gerieben. Das ist vor dem Hintergrund der damaligen wissenschaftlichen Faktenlage auch nachvollziehbar und eine kritische Haltung ist ja nicht per se schlecht. Dennoch gibt es natürlich eine Grenze, nämlich dort, wo das eigene Handeln zu einer Gefährdung anderer wird. Und da erachte ich beispielsweise die Maskenpflicht für das geringere Übel.»

Hinzufügen könnte man noch, dass die Anthroposophie generell dem Glauben abgeneigt ist und selbst in erster Linie einen Erkenntnisweg darstellt, auf dem Äußerungen Steiners Anregungen sein können, als Glaubensinhalte aber untauglich sind. Steiner selbst hat Zeit seines Lebens sehr vieles nachhaltig hinterfragt. Waldorflehrer neigen auch nicht dazu, ungefragt das gerade sich in Mode befindende Hauptnarrativ aus Politik und Leitmedien unkritisch zu schlucken. Die Erziehung zu eigenständigem, kritischem Denken gehört zum Leitmotiv jeder Waldorfschule, das sie allerdings auf eine den Kindern und Jugendlichen entwicklungsgerechte Weise umzusetzen strebt. Das zieht sicherlich auch kritisch denkende Eltern mit alternativen Lebensstilen an.7 Hierzu sollten bestehende empirische Untersuchungen rezipiert werden (welches Nachtwey und Co. weitgehend versäumen). Dies soziologisch weiter zu erforschen, wäre interessant. Besser wäre es, wenn das mit weniger ideologischen Scheuklappen angegangen würde, als Oliver Nachtwey es tut. Es könnte sinnvoll sein, sich nicht nur von der Außenperspektive eines Helmut Zander beeinflussen zu lassen, zumal diese an entscheidenden Stellen durch eigene Ideologie immer wieder die Sicht auf Anthroposophie verstellt (vgl. D. Hardorp, R. Halfen: ‹Wiederkehrende Methodenprobleme in der Steinerdeutung von Jakob W. Hauer bis H. Zander›, online beim Rudolf-Steiner-Archiv)8. Es könnte mehr dabei herauskommen, wenn man die Innenperspektive der Anthroposophie nicht komplett ausblenden würde. Immerhin wurde auf die Innenperspektive zweier Waldorfgeschäftsführer und zweier Klinikmitarbeiter Bezug genommen. Warum dann nicht auch auf Vertreter der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach, das nahe der Stadt Basel liegt, wenn man schon den Untertitel ‹Anthroposophie und Querdenken› auswählt?

Die Entzauberung der Welt

Postscriptum: Am 26. November 2021 erschien in der ‹Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik› ein Artikel von Robert Schäfer und Nadine Frei mit dem Titel ‹Rationalismus und Mystifikation: Zur formalen Pathetik des Dagegenseins›.9 Darin geht es um eine Auswertung von 15 Interviews mit ‹Querdenkern› sowie vier Kurzinterviews auf Demonstrationen. «Inhaltlich ist die Kritik strukturiert durch ein eigentümliches Spannungsverhältnis von Rationalismus und einer Haltung, die im Folgenden mit einem Ausdruck von Ward und Voas (2011) als conspirituality bezeichnet wird. Darunter ist die Komplementarität von verschwörungstheoretischen und esoterischen Überzeugungen zu verstehen. Die konspiritualistische Haltung enthält zahlreiche weltanschauliche Motive, die ihren ideengeschichtlichen Ursprung in der Romantik haben und sich als Kritik an der Moderne insbesondere gegen das wenden, was Weber ‹die Entzauberung der Welt› genannt hat. Charakteristisch für die Kritik ist aber nicht nur ihr Inhalt, sondern auch ihr Stil. In unserer Studie verwenden wir dafür den Ausdruck formale Pathetik: Wenig Inhaltliches wird gesagt, das dafür aber leidenschaftlich.» (S. 3)

Anthroposophie wird in diesem Papier nur am Rande erwähnt bzw. unter dem Begriff der ‹conspirituality› subsumiert: «Für die Erklärung werden in den Interviews verschwörungstheoretische Deutungen entfaltet, die Alternativen beruhen auf esoterischen bzw. anthroposophischen Ideen. Eine Möglichkeit, die Komplementarität dieser beiden Deutungsmuster mit einem Begriff zu fassen, ist das Konzept der conspirituality (Ward und Voas 2011; Asprem und Dyrendal 2015; Schließler et al. 2020). Darunter wird die Einheit der beiden Überzeugungen verstanden, dass (a) eine geheime Gruppe die politische Ordnung kontrolliert und (b) sich die Menschheit vor einem unmittelbar bevorstehenden Paradigmenwandel befindet, der darauf beruht, dass immer mehr Menschen spirituell erwachen und so fundamentale Bewusstseinsveränderungen erleben: ‹the inner self must change before the outer world can› (Ward und Voas 2011, S. 112).» (S. 8)

Das Papier kritisiert die Querdenker-Bewegung als weitgehend inhaltsarm, dafür aber leidenschaftlich-pathetisch und schließt mit diesen beiden inhaltsarmen Sätzen: «Unser empiriebasierter Vorschlag für die gesellschaftstheoretische Einbettung des untersuchten Gegenstands bestimmt die Maßnahmenkritik als Ausdruck eines übergreifenden Prozesses der Erosion aller Gewissheiten. Letztlich bleibt der Kritik als Grundlage nichts mehr übrig als der Eigenwert der Kritik als solcher.» (S. 18)

Max Webers Begriff der ‹Entzauberung der Welt› durch eine «zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung» bedeutete «nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht». Sie hat zu tun mit dem «Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen». Das schrieb der Urvater der Soziologie 1919.10

In ‹‚Light from the East‘: How Max Weber and Rudolf Steiner Understood the Disenchanted Modern West› schreibt der Religionswissenschaftler Aaron French (UC Davis und Universität Erfurt): «Max Weber und Rudolf Steiner […] kamen zu ähnlichen Schlussfolgerungen darüber, wie die westliche Moderne entzaubert worden war und die Menschheit durch Technologie und eine bestimmte Art von eng fokussierter Rationalität gefangen hielt. Um den radikalen sozialen und intellektuellen Umwälzungen einen Sinn zu geben, blickten sie ‹nach Osten›, um zu versuchen, die historische Entwicklung Westeuropas zu verstehen, wie es zu seiner wahrgenommenen Krise kam und wie es befreit und/oder wieder entzaubert werden könnte. Der Vergleich dieser scheinbar unverbundenen Denker ist wichtig, weil er zeigt, dass sie gar nicht so unterschiedlich waren, wie wir oft annehmen. Ihre Warnungen vor der Technologie, dem Verlust gemeinsamer Werte und der Zunahme zwischenmenschlicher Konflikte gewinnen heute zunehmend an Bedeutung.»11


Mit Dank an Dirk Randoll und Matthias Niedermann für in den Text aufgenommene Hinweise.

Grafik: Fabian Roschka

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. Politische Soziologie der Corona-Proteste
  2. So charakterisiert in der Sekundäranalyse im Auftrag der Böll-Stiftung auf S. 65.
  3. Siehe Fußnote 1, S. 53.
  4. Vgl. auch Wege zur Verwirklichung des Initiationsprinzips als Zivilisationprozess
  5. Zu empirischen Feststellungen zu Absolventen von Waldorfschulen im Allgemeinen vgl. auch: Heiner Barz, Dirk Randoll, «Wir waren auf der Waldorfschule» – Ehemalige als Experten in eigener Sache. 2021.
  6. Vgl. Fachhochschule Bielefeld – Werner Georg Haverbeck.
  7. Vgl. hierzu auch die Studie aus 2018 von Steffen Koolmann, Lars Petersen, Petra Ehrler (Hg.): Waldorfeltern in Deutschland. Status, Motive, Einstellungen, Zukunftsideen. Auch in der Waldorf-Alumni-Studie von Barz und Randoll (siehe Fußnote 5) findet man etwas zu Schulwahlmotiven der Eltern und wer diese sind.
  8. Textkritik und kontextuelle Analyse:
    Wiederkehrende Methodenprobleme in der Steinerdeutung von Jakob Wilhelm Hauer bis Helmut Zander
  9. Rationalismus und Mystifikation: Zur formalen Pathetik des Dagegenseins
  10. Max Weber, Wissenschaft als Beruf. München 1919.
  11. Im englischen Original unter “Light from the East”: How Max Weber and Rudolf Steiner Understood the Disenchanted Modern West

Letzte Kommentare